Die Ursache von Gewalt – wollen wir sie wissen?

Existenzielle FragenLichterketten, Protestbanner, Schweigeminuten, klicken für Petitionen und dergleichen „Aktivitäten“ sind im Angesicht von Gewalt Ausdruck der Hilflosigkeit im Land. In der Welt. Überall – denn was tun gegen die menschlichen Schlachthofszenarien, die uns die Mainstream-Medien entgegenschleudern?

Wie lächerlich die „Aktionen“ der „Freiheitskämpfer“ sind im Angesicht der ungleichen Dimensionen, scheint die Mehrheit nicht zu bemerken.

Peter hat in einer Karikatur den Blogger dargestellt, wie ich ihn auch sehe. Die Zeichnung verdeutlicht „den Bürger/die Bürgerin“ in ihrer Hilflosigkeit.

Man mache sich doch mal den unglaublichen Unterschied klar, zwischen den Taten der Gewalttätigen – z.B. seinerzeit in Burma/Myanmar – und dem, wozu Blogger, Websitebetreiber oder Kommentatoren aufgerufen sind: Zu etwas, das sie sowieso ständig machen (Bloggen, Texten, Kommentieren).

Obwohl – vielleicht ist das ja der springende Punkt: Gewalttätige Aggressoren tun ja auch nur, was sie sowieso ständig machen.

Eine ganze Gesellschaft verleugnet

Die wesentliche Fragestellung zur Problematik der herrschenden und ständig zunehmenden Gewalttätigkeit wäre doch mal die Frage nach der Ursache. Die Antwort ist seit den Anfängen der Psychoanalyse bekannt, allgemein zugänglich und auch von Laien gut zu verstehen.

Aber die Ursache von Gewalt wird nur von wenigen thematisiert. Warum?

In der Psychoanalyse wurden die Ausdrücke „Aggression“, „Sadismus“, „Destruktion“ und „Todestrieb“ recht unklar und durcheinander gebraucht. Aggression schien identisch mit Destruktion. Und diese war gegen die Welt gerichteter „Todestrieb“.

Einen destruktiven Impuls entwickelt ein Lebewesen dann, wenn es eine Gefahrenquelle vernichten will. Dann ist die Zerstörung oder Tötung des Objekts das biologisch sinnvolle Ziel. Das Motiv ist nicht ursprüngliche Lust an der Destruktion, sondern das Interesse des „Lebenstriebes“, Angst zu ersparen und das Gesamt-Ich zu erhalten.

Ich vernichte in der Gefahrensituation, weil ich Leben und keine Angst haben will.

Ein Tier tötet ein anderes nicht aus Lust am Töten. Das wäre sadistischer Mord um der Lust willen. Es tötet, weil es Hunger hat oder sein Leben bedroht fühlt.

Die Aggression im strengen Sinne des Wortes hat weder mit Sadismus noch mit der Destruktion zu tun. Das Wort bedeutet „herangehen“.

Jede positive Lebensäußerung ist aggressiv.

Die Aggression ist die Lebensäußerung der Muskulatur, des Systems der Bewegung. Das hat große Bedeutung im Zusammenhang mit der heutigen Kindererziehung.

Ein großes Stück der Aggressionsbremsung, die unsere Kinder in vernichtender Weise zu erdulden haben, folgt aus der Gleichsetzung von „aggressiv“ mit „bösartig“ oder „sexuell“.

Das Ziel der natürlichen Aggression dient stets der Befriedigung eines lebenswichtigen Bedürfnisses.

Für die Lösung jeder Triebregung ist also Aggression nötig, weil die Spannung zur Befriedigung drängt. Hunger, Lust, Bewegungsdrang – alles benötigt Aggression. Wir müssen ‚aktiv vorwärts gehen‘, herangehen, um Hunger, Lust oder Bewegungsdrang zu stillen.

Ursache von Gewalt: Trauma und Verdrängung

Durch die Erziehung der Kinder zu Gehorsam, verbunden mit Stillsitzen und dem Verbot der sexuellen Selbstbefriedigung durch a) autoritäre Familienstrukturen, die sich in Schule, Ausbildung, Militär und Lohnarbeit fortsetzen und b) lustfeindlichen Religionen, wird lebenswichtige Bedürfnisbefriedigung versagt. Der Organismus reagiert darauf mit selbstständig auftretenden destruktiven Handlungen.

Die Unterdrückung der Befriedigung seiner Bedürfnisse ist so schmerzhaft für das Kind, dass es nur überleben kann, wenn es die Erinnerungen daran verdrängt. Ins Unbewusste verschiebt.
Aber die Wirkung setzt sich weiterhin fort. Der äußere Druck, der die Verdrängung seinerzeit hervorgerufen hat, mag längst nicht mehr existieren, und dennoch kann sich der erwachsene Mensch gegenüber den damals verletzten Gefühlen (Liebe, Lust) nicht mehr öffnen.

„Ich bin aus eigener Erfahrung durch Beobachtungen an mir und anderen zur Überzeugung gekommen, dass die Sexualität der Mittelpunkt ist, um den herum das gesamte soziale Leben wie die innere Geisteswelt des Einzelnen … sich abspielen…“
(Wilhelm Reich)

Der ursprüngliche Konflikt ist im Unbewussten gespeichert und dem Erwachsenen nicht mehr bewusst. Aber außerdem ist die Verdrängung auch dafür verantwortlich, dass die noch fließende Lebensenergie sich aufstaut und dadurch ganz anders empfunden wird: Während frei fließende, nach außen strömende Energie mit Lust einhergeht, wird aufgestaute und nach innen zurückgezogene Energie als neurotische Angst erlebt.

Unvereinbar: Lust und Angst

Lust und Angst sind gegensätzliche Gefühle, aber die Energie, die ihnen zugrunde liegt, ist identisch: bei Lust frei strömend, bei Angst gestaut.

Jeder kann das selbst feststellen: Bei Angst halten wir die Luft an, beim Orgasmus atmen wir tief durch.

Diese Zusammenhänge wurden von Wilhelm Reich ausführlich erforscht und dokumentiert. Seine tägliche Arbeit als Arzt und Psychiater brachte ihn zu Erkenntnissen wie der folgenden:

„Das Absinken der Hassregungen konnte man am Kranken, der die Fähigkeit erwarb, sich natürlich sexuelle Lust zu verschaffen, gar nicht übersehen.“ (Quelle, S. 121)

Und weiter:

„Das Anwachsen ehelicher Konflikte bei Abnahme der sexuellen Anziehung und Befriedigung wurde verständlich. Ebenso das Nachlassen der ehelichen Brutalität bei Findung eines anderen befriedigenden Partners.“

Auch Sigmund Freud kannte diese Zusammenhänge um die Wiederentdeckung der Lebensenergie.

Die Suche nach den tieferen Wurzeln und nach Heilungsmöglichkeiten von Neurosen hatte Freud dazu geführt,

die Verdrängung der Sexualität als wesentliche und weit verbreitete Ursache von Neurosen aufzudecken.

Menschen waren demnach an einer Gesellschaft krank geworden, die ihnen das natürliche und lustvolle Erleben ihrer Sexualität verboten hatte und den sexuellen Regungen und Erregungen mit Strafe, Schuldgefühlen und Gewalt begegnete.

Welche unglaublichen Perspektiven sich da auftaten: Nicht nur die einzelnen daran krank gewordenen Menschen zu heilen, sondern auch die gesellschaftlichen Bedingungen so zu verändern, dass solche Leiden gar nicht erst entstehen können. Die Konsequenz daraus wäre die Befreiung der Sexualität aus ihren gesellschaftlichen, moralischen, gesetzlichen und kulturellen Zwängen gewesen: Die sexuelle Revolution.

Der Preis der Verdrängung

Zu dieser sexuellen Revolution kam es aber bis heute nicht. Warum?

Als Freud von seinen Erkenntnissen der Gesellschaft berichten wollte, erschrak er tief über deren Reaktion.

Die damalige Wiener Ärzteschaft und die Öffentlichkeit reagierten mit Entsetzen auf diese These und Freud muss gespürt haben, dass er mitsamt seiner neu begründeten Psychoanalyse von Stürmen der Entrüstung hinweggefegt würde, wenn er an dieser These festhielte.

Der langjährigen Leiter des Sigmund-Freud-Archivs in London, Jeffrey M. Masson, berichtete Anfang 1984 in seinem Buch „Was hat man dir, du armes Kind, getan?“ von einem Briefwechsel zwischen Sigmund Freud und seinem damaligen Freund Wilhelm Fließ, dass Freud seine ursprüngliche These mit Rücksicht auf den öffentlichen Druck ganz bewusst entschärft hat. Das Gleiche geht auch aus Notizen Wilhelm Reichs über private Gespräche mit Freud hervor.

Masson verlor nach dieser Veröffentlichung seinen Posten und wurde aus der Psychoanalytischen Vereinigung ausgeschlossen. (Details dazu)

So lange Leute wie Jeffrey Masson ausgegrenzt und mundtot gemacht werden und als Folge davon kein Protest 1.0 ausgelöst wird, genauso lange werden in unserer Welt Menschen, deren Lust blockiert ist, massiv um sich schlagen bis zum Geht-nicht-mehr – vom mächtigsten Kriegstreiber in den USA bis zum erbärmlichsten Vergewaltigungsmörder in Königswinter.

Und gleichzeitig werden mundtote Blogger zum Protest 2.0 aufrufen, daran teilnehmen und ein Lichtlein anzünden.

10 Kommentare

  • dianne

    Interessant wäre, darüber zu diskutieren, wie eine Veränderung tat-sächlich stattfinden kann. Ich habe Masson’s Buch seit 20 Jahren in meinem Bücherregal stehen. Konsequenzen ergaben sich daraus bestenfalls für mich und meine Kinder.
    Die Unterdrückung der sexuellen Lust hat doch auch 2007 noch System, bzw. wird wieder forciert, gerade durch fundamentalistische Bewegungen aus den USA.
    Ganz schön frustrierend ?!?

  • Hannelore

    Diesen Beitrag hatte ich anlässlich des Protestaufrufs für Myranmar geschrieben. Es gibt auch noch andere – eigentlich ziemlich viele, die von solche Aktionen nichts halten. Die Menschen scheinen kritischer zu werden.

    @dianne: Konsequenzen/Veränderungen können sich immer nur bei dir selbst ergeben. Die anderen stecken in ihrer eigenen Haut, da kannst du nie reinschlüpfen.

  • Kompliment: Die Sphinx passt ganz hervorragend zu diesem Thema! (Symbol für das Rätsel des Lebens, seine Entwicklung.)
    Aber was ist denn nun die Ursache von Gewalt? M.E. ist die Unterdrückung von Sexualität NICHT diese Ursache, sondern bereits eine FOLGE des zugrundeliegenden Prozesses, einer gewalttätigen Entwertung von Frauen durch zunehmend patriarchal organisierte Gesellschaften (Gimbutas).
    Die Freudsche Psychoanalyse hat zur Aufklärung dieser Problematik leider NICHTS beizutragen, hat hier vielmehr  zusätzlich verschleiert. Auch Masson – den ich für die von ihm erschlossenen Quellen sehr schätze – wirkt leider teilweise an der Idealisierung von Freuds Unsinn mit (vgl. dazu die "Anmerkungen von Klaus Schlagmann" auf der Seite von Dr. Rudolf Sponsel zu Jeffrey Masson, im Artikel der Link unter "Details dazu").
    Meine Analyse: Die Entwertung von Frauen führt auf der Ebene der Familie irgendwann zu Racheaktionen von Frauen (Musterbeispiel: Iokaste im "König Ödipus"). Kinder werden in diesem Konflikt der Eltern als Spielball missbraucht. Auf diese Weise verselbständigen sich Entwertungserfahrungen (bei Jungs wie bei Mädchen), es gibt irgendwann Opfer-Erfahrungen auf beiden Seiten der Geschlechter (wenngleich für Jungs manchmal vielleicht leichter auszuhalten, weil in der gesellschaftlich anerkannteren Geschlechter-Rolle). Die Gewaltverhältnisse bleiben bestehen (auch losgelöst von Mangelerfahrungen durch Dürre und ökologische Katastrophen), weil sie auf der Ebene der Familien durch Sozialisation überliefert werden. Eine Überwindung der Gewaltverhältnisse erfordert eine weitere Arbeit an der Gleichberechtigung, gegenseitigen Wertschätzung der beiden Geschlechter. (Ich würde ein solches Gesellschaftsmodell lieber "Androgynat" oder so ähnlich nennen; Riane Eissler spricht – auch sehr o.k. – von "Gylanie".)
    Mehr zu meinen Ideen unter http://www.oedipus-online.de.

  • "Die Gewaltverhältnisse bleiben bestehen (auch losgelöst von Mangelerfahrungen durch Dürre und ökologische Katastrophen)"
    Interessanter Ansatz.
    Vielleicht bestehen Gewaltverhältnisse grundsätzlich wegen Mangelerfahrungen – sei es Mangel an Nahrung, Liebe, Anerkennung, … usw. ?

  • Sorry, ich war wohl ein wenig knapp in meiner Argumentation. Wollte sagen: James DeMeo z.B. argumentiert m.E. sehr umfangreich und plausibel, dass sich aufgrund von sehr existentiellen Mangelerfahrungen (fortgesetzte Hungersnot) Gewaltverhältnisse in Gesellschaften etablieren. (Gimbutas hat es im Grunde genauso gesehen.) Diese Gewaltverhältnisse bleiben dann bestehen, auch losgelöst von irgendwelchen akuten Bedingungen von Not und Elend.

  • Dr.Bongeronde

    Lebenskraft ist eine kreative Energie, die einerseits durch Sex, doch andererseits auch noch ganz anders produktiv genutzt werden kann.  Gewalt bzw. Frustration besteht wohl darin, diese nicht nutzen zu können weil man dazu aus irgendeinem Grund unfähig ist oder es wegen  einer seelischen Verletzung  ablehnt, sie zu nutzen und sich so blockiert, bzw die nach aussen drängende destruktive Kraft dann evtl. auf ein Feindbild projiziert.  [Anm.: gekürzt, da vom Thema abweichend]

  • Jörg

    „Ein Tier tötet ein anderes nicht aus Lust am töten. Das wäre sadistischer Mord um der Lust willen. Es tötet, weil es Hunger hat oder sein Leben bedroht fühlt.“

    Dies stimmt nicht und ist eine romantisierende Verklärung der Natur.
    Jeder der eine Katze hat kann gut beobachten, wie sie eine Maus fängt, mit ihr spielt (quält!!!) und sie schließlich tötet. Nicht immer wird die Maus dann auch verspeist. Häufig bleibt sie liegen. Besonders dann, wenn es in einem Sommer sehr viele Mäuse gibt und das Jagdglück jeden Tag der Katze mehrfach hold ist.

    Man sollte aufhören den Menschen als das einzig grausame Wesen der Natur zu geißeln. Es ist vielmehr die Natur, die grausam ist.

  • Tiere in Gefangenschaft und auf bestimmte Merkmale gezüchtete Haustiere verhalten sich immer anders, als Tiere in der Wildnis.
    Das gilt für alle Lebewesen.
    So wie die erwähnte Katze verhält sich keine Löwin, im Gegenteil, sie tötet ihre Beute mit einem Biss und der Löwenclan verspeist alles sofort und bis zum letzten Krümel.

  • Michael Kostic

    Hallo,

    nur kurz zu den letzten beiden Kommentaren.

    Es gibt in Afrika Löwen (beide Geschlechter) die jagen Hyänen. Niemand weiss so genau warum. Es geschieht nicht aus Not. Und auch nicht aus Revier- und/oder Futterstreit. Die Großkatzen gehen regelrecht auf Jagt. Ein noch ungeklärtes Phänomen.

    Und Haustiere sind allesamt verhaltensgestört…

    Gewalt ist eben sehr viel komplexer…

    Gruß

  • Andreas

    Sehr interessante Literatur zum Thema –

    Die Politische Ponerlogie
    Die Wissenschaft vom Bösen und seiner Anwendung für politische Zwecke

    http://gedankenfrei.wordpress.com/2008/08/17/lit-manuskript-polit/