Als unsere Urteilskraft das Klo runter ging

Intuition

In seinem Kommentar zum Artikel „Archiv“ schreibt Mika Folgendes:

Dennoch frage ich mich: kann es nicht beides geben, Archive in der Art von Wikipedia und solche in der Art des Barbarastollens? Schließen sich beide aus? Ist es schlecht, dass es zweitere gibt? „Zutritt verboten“: da darf nicht jeder hin, aber wenn es jeder dürfte, wäre das gut? … Ist es schlecht, dass es Leute gibt, die sich mit Archiven professionell auseinandersetzen…

Es spielt an dieser Stelle keine Rolle, um was es thematisch geht. Hervorgehoben habe ich die Worte „gut“ und „schlecht“, weil ich immer wieder mit derartigen Einteilungen in Kommentaren und Feedback-Emails konfrontiert bin, und dazu einige Gedanken anbieten möchte.

Erinnert ihr euch noch, wann ihr gelernt habt, in gut und schlecht einzuteilen? Das war, als ihr kapieren musstet, dass alles und jedes bewertet wird, und wenn ihr es nicht schnell genug versteht, dann passiert — ja, was dann passiert, konntet ihr euch nicht so recht vorstellen, aber es fühlte sich bedrohlich an. Denn ihr wart erst 1 oder 2 Jahre alt.

Es begann damit, dass eure Mutter – oder wer für euch zuständig war – genug vom Windelwechseln hatte. Als ihr gelernt hattet zu sitzen, pflanzte man euch auf einen Topf, in den ihr auf Kommando ein Häufchen machen solltet. Konntet ihr diese Erwartung schnell erfüllen, dann war das gut! Wart ihr noch zu klein, um den Schließmuskel zu kontrollieren oder machte euer Verdauungssystem aus irgendeinem Grunde nicht mit, dann habt ihr bei den Erwachsenen ein Problem verursacht, denn ein leerer Topf war schlecht.

Natürlich ist es schwierig unter solchem Druck den Darm zu entleeren, der sich ja durch die Angst des Kindes verkrampft. Die Sauberkeitserziehung unserer Kinder ist einer der prägendsten Gehorsamkeitsdrills.

Es ist daher auch nicht verwunderlich, dass Verdauungsmittel die am meisten gekauften und verschriebenen Medikamenten sind.

Bauchgefühl, Intuition

Das Urteilsvermögen eines Menschen liegt im Gefühlsbereich und der wird mit dem Bauch assoziert. Wird ein Mensch mit einer Schwierigkeit konfrontiert, heißt es im Volksmund: „Das muss ich erst mal verdauen!“ Stress schlägt uns auf den Magen (genauer Darm).

Wird also die ureigene und individuelle Urteilskraft verhindert und durch ein schwarz-weiß gefärbtes Bewertungssystem ersetzt, wird das Kind diese Einteilung in „gut“ und „schlecht“ beibehalten und sein Leben lang auch auf andere Zusammenhänge übertragen. Durch die Sauberkeitserziehung hängt sein Denken in der gut/schlecht-Formel, da die aber in der Kindheit mit Angst besetzt war, sucht es diese Polarität gleichzeitig zu vermeiden.

So wird mir ungewöhnlich oft die Frage gestellt: Kann man nicht den Lebensstil der Ureinwohner mit Patriarchat vereinbaren, geht nicht beides zusammen? Viele interpretieren meine Texte dahingehend, dass ich das die indigene Lebensweise als „gut“ und das Patriarchat als „schlecht“ erachte.

Ein soziales System zu bewerten ist nicht mein Ansatz. Ich halte es für unmöglich indigene Gesellschaften oder Patriarchat überhaupt als Ganzes zu beschreiben. Gesellschaftssysteme sind viel zu komplex. Man kann meines Erachtens nur Einzelaspekte herausgreifen, wie in oben genanntem Beispiel „Archiv“, und versuchen, die Gesinnung und die Absicht, die dahinter stecken, zu analysieren: Ist die Geisteshaltung, das Ethos, der Handelnden wohlwollend, missbräuchlich, egoistisch, altruistisch, sozial, asozial?

Diese Gesinnung oder Haltung einer Sache gegenüber kann jede einzelne Person gefühlsmäßig für sich selbst auf „Stimmigkeit“ abklopfen. Die Frage: „Fühlt sich das richtig für mich an, was ich da erkannt habe?“ ist hier angebracht.

Mit ‚gut‘ oder ’schlecht‘ hat das nichts zu tun. Gut/schlecht-Floskeln sind Instrumente der Doppelmoral; kombiniert mit Lob und Tadel sind sie im Patriarchat in allen Lebensbereichen präsent. Sie zu verwenden macht jedoch keinen Unterschied für unseren Bewusstseinsprozess.

Ich lade alle ein, sie einfach mal wegzulassen und zu schauen, was passiert.

Hinweise:

Bei Ureinwohnern

Bei Naturvölkern ist es für Mütter ganz normal zu wissen, wann ihr Baby „muss“. Sie kennen die Signale, die das Kind gibt und halten es über einen Platz oder ein Gefäß. Das Kind lehnt dabei entspannt gegen den Bauch der Mutter.

… Wenn er sich nass macht oder defäktiert, lacht die Mutter vielleicht, und da sie selten allein ist, lachen auch die anderen, und sie hält das Kind so schnell sie kann von sich ab, bis es sein Geschäft beendet hat.

Jean Liedloff über die südamerikanischen Yequanas:

… Erbrechen oder „Essen ausspucken“, ein tägliches Ereignis im Leben unserer Kleinkinder, kommt so selten vor, dass ich mich nur an einzigen solchen Fall in all meinen Jahren bei den Indianern erinnern kann, und da hatte das Baby hohes Fieber.

Die Vorstellung, die Evolution habe eine einzige Gattung dahingehend entwickelt, beim Trinken der Muttermilch unweigerlich an Verdauungsschwierigkeiten zu leiden, ist erstaunlicherweise von den Experten in unserer Zivilisation noch nie in Frage gestellt worden: „Bäuerchen-machen-Lassen“ – dem Baby fest auf den Rücken zu klopfen, ihm zu helfen, „die geschluckte Luft wieder hochzubringen“. Das Baby muss sich dabei häufig an der Schulter übergeben. Bei dem Stress, dem unsere Babies unterworfen sind, nimmt es wenig Wunder, wenn sie ständig krank sind. Die Spannung, das Um-sich-Stoßen, Sich-Wölben, Sich-Biegen und Quietschen sind alles Symptome des gleichen beständigen, tiefen Unbehagens. Die Babies der Yequanas benötigen niemals eine besondere Behandlung, nachdem sie sich gestillt haben – ebensowenig wie die Jungen anderer Tierarten.

Ein gutes Buch zum Thema:

von der Wilhelm Reich-Schülerin Gerda Boyesen Dein Bauch ist klüger als du

Link-Empfehlung

The Gentle Wisdom of Natural Infant Hygiene

6 Kommentare

  • Marion

    Da hast du mal sowas von Recht!!!!
    Meine Tochter, jetzt 16 wurde nie dazu gezwungen aufs "Potti" zu gehen, obwohl ich diverse geschenkt bekam..
    Mit dem Ergebnis: mit auf den Tag genau 2,5 Jahren sagte sie "ich geh jetzt aufs Klo" aufs große. Sie hat von dem Tag an nie wieder eine Windel gebraucht.
    Ich habe während der ganzen "Erziehung " darauf geachtet Gut und Böse etc nicht zu benutzen, wir leben jetzt zusammen in einer Art mini-Matriarchat..Pubertätskrisen jeder Art gab es nicht.
    Gruß Marion

  • Marion

    Da hast du mal sowas von Recht!!!!
    Meine Tochter, jetzt 16 wurde nie dazu gezwungen aufs "Potti" zu gehen, obwohl ich diverse geschenkt bekam..
    Mit dem Ergebnis: mit auf den Tag genau 2,5 Jahren sagte sie "ich geh jetzt aufs Klo" aufs große. Sie hat von dem Tag an nie wieder eine Windel gebraucht.
    Ich habe während der ganzen "Erziehung " darauf geachtet Gut und Böse etc nicht zu benutzen, wir leben jetzt zusammen in einer Art mini-Matriarchat..Pubertätskrisen jeder Art gab es nicht.
    Gruß Marion

  • Marion

    Da hast du mal sowas von Recht!!!!
    Meine Tochter, jetzt 16 wurde nie dazu gezwungen aufs "Potti" zu gehen, obwohl ich diverse geschenkt bekam..
    Mit dem Ergebnis: mit auf den Tag genau 2,5 Jahren sagte sie "ich geh jetzt aufs Klo" aufs große. Sie hat von dem Tag an nie wieder eine Windel gebraucht.
    Ich habe während der ganzen "Erziehung " darauf geachtet Gut und Böse etc nicht zu benutzen, wir leben jetzt zusammen in einer Art mini-Matriarchat..Pubertätskrisen jeder Art gab es nicht.
    Gruß Marion

  • Tyulender

    Hallo Hannelore,

    ein sehr interessanter und aufschlussreicher Gedankengang!

    Nur mit dem "Gut" und "Schlecht", "Richtig" und "Falsch" ist das so eine Sache: Meiner Meinung nach sind sie in einer gewissen Weise schon angebracht, da sie sich häufig auf das beziehen, was den meisten Menschen primär nützt oder schadet. Ich will an dem Beispiel von Matriarchat/Patriarchat anknüpfen: Den meisten Menschen schadet das Patriarchat, allein schon aus den Gründen, die du in deinen Blog-Themen vorstellst (darum will ich sie hier nicht wiederholen). Daher kann man hier meines Erachtens schon Tendenzen erkennen, die in Richtung "Falsch" oder "Schlecht" gehen. Denn was ist an einem System "Gut" oder "Richtig", das den meisten Menschen massiv schadet, sie traumatisiert oder von Kindesbeinen an vergewaltigt? Unter solchen Gesichtspunkten ist das nicht ausschließlich eine subjektive Bewertungssache! Man kann das nun in umgekehrter Richtung für das Matriarchat sagen: Was ist "schlecht" daran, wo doch Menschen einander helfen, wo Liebe vorgelebt und praktiziert wird, wo eine friedliche und harmonische Beziehung zwischen den Geschlechtern und Generationen besteht? Auch da kann man, anhand der Tendenzen, sagen, dass es "Gut" für alle (oder zumindest den meisten) Menschen ist.

  • dianne

    @tyu: "iese Gesinnung oder Haltung einer Sache gegenüber kann jede einzelne Person gefühlsmäßig für sich selbst auf “Stimmigkeit” abklopfen. Die Frage: “Fühlt sich das richtig für mich an, was ich da erkannt habe?” ist hier angebracht. Mit ‘gut’ oder ’schlecht’ hat das nichts zu tun." – der Unterschied ist, ob die Bewertung selbst- oder fremdbestimmt geschieht.

  • Undine

    Moinsen!
    Wie bitte schön, ich brauche da Nachhilfe, beurteilt man überhaupt etwas als ‚gut‘ oder ’schlecht‘?

    Wenn ich einem eine runterhaue, ist das schlecht? Aber wenn doch da ein Krabbeltier auf seiner Wange sass, und ich wollte es breitschlagen … war es nun schlecht, das Krabbeltier breitschlagen zu wollen, war es schlecht, dass ich vergass vorher meinen Mitmenschen unter dem breitzuschlagenden Krabbeltier zu entfernen, war es schlecht, das … ich sehe da nicht durch.

    Wenn ich esse, ist es gut für mich. Aber schlecht für die Pflanze. Jedenfalls würde ich es schlecht finden, gegegesesn zu werden. Also wäre es doch auch für die Pflanze schlecht, gegessen zu werden, oder? Oder wie?

    Oder esse ich, um zu leben? Mache ich mir gar keinen Kopf dabei, ob das jetzt ‚gut‘ oder ’schlecht‘ für mich ist? Meistens schon. Ich esse, wenn ich es schaffe, nur und genau aus dem Grund, weil ich gerade Hunger habe und Appetit. Manche sagen, das ist gut. Demnach wäre es schlecht, ohne Hunger und ohne Appetit zu essen.

    Kommen wir also zum Kern der Sache: gut ist, wenn ich eine Sache so tue, wie sie getan werden muss (also essen um den Hunger zu stillen), schlecht ist, wenn ich eine Sache so tue, wie sie nicht getan werden muss (also essen aus Frust). Aha. Soweit, so gut. Aber wer, bitte schön, ist denn nun diese geheimnisvolle Instanz, die besagt und verbindlich festlegt, wie etwas zu geschehen hat? Und warum hat diese Instanz immer nur uns im Blick? Für alle, die gut und schlecht nicht mehr missen möchten in ihrem Leben, wäre es wert, einmal darüber nachzudenken. Ob es gut oder schlecht für sie wäre, ist eine Frage ihres Standpunkts. Wert wäre es das auf jeden Fall.