Selbstbestimmung: Wie wir langsam baden gehen!

Bürgerbad Wetter, NRW

Bürgerbad Wetter, NRW

Geht der Sozialstaat baden, während auf der anderen Seite Gemeinschaftsgeist entwickelt und Lebensqualität geschaffen werden?

Der Spiegel schreibt unter Dolchstoß durch den Konsumenten:

„Der normale Käufer bei Karstadt, Metro und Lidl ist ein regelrechter Globalisierungsfanatiker: Er vergleicht Preis und Leistung und will immer das Billigste. So vernichtet er massenweise Jobs in Europa – am Ende auch den eigenen. Er will Rabatte bekommen und nicht Aufschläge zahlen. Der gute Deal interessiert ihn, nicht das schmutzige Geschäft, das ihm irgendwo auf der Welt vorausgegangen ist.
Noch immer besitzen 75 Prozent der Weltbevölkerung keine Arbeitslosenversicherung, was ihnen zum Nachteil, ihren Produkten aber zum Vorteil gereicht. Das Risiko von Krankheit, Armut und Alter tragen sie selbst und eben nicht die Produkte, die sie herstellen. Im Westen ist es umgekehrt.“

Da stellt sich die Frage: Will der „normale Bürger“ überhaupt den „abstrakten“ Sozialstaat oder sehnt er sich eher nach der Direktheit einer Gemeinschaft, wo es für ihn überschaubar ist, wie er mit seinem Einsatz (Geld, Zeit, Kreativität) selbst etwas bewirkt?

Gehen Sie baden! ist eine Artikel-Überschrift der Vereins- und Bürgerbäder in NRW. Allein in Nordrhein-Westfalen gibt es über 50 Vereins- und Bürgerbäder.

Das kam so: Städtische Gemeinden können Freibäder nicht mehr finanzieren (Unterhalt, Renovierung) und wollen das Bad schließen, Bürger/innen begehren auf (Bürgerbegehren) und schließen sich in Initiativen zusammen, um in ihrer Freizeit das Bad zu renovieren und anschließend zu unterhalten.

Die Konsequenzen daraus:

  • Das sonst übliche pflegeleichte Friedhofsgrün städtischer Bäder ist einer Vielfalt an heimischen Pflanzen gewichen, weil viele BesucherInnen Ableger von Zuhause mitbrachten.
  • Engagement ist ansteckend. Die Identifikation der Bürgerlnnen mit ihrem Bad hat auch Vereine und Initiativen „infiziert“: Sie stellten im Elsebad bunte Figuren auf und steckten Beachvolleyball-Felder ab, veranstalteten Mitternachtsfeten und sogar ein Museumsdorf mit Geschichtswerkstatt.
  • Stetig wachsende Besucherzahlen – Beispiel: in diesem schönen Sommer waren es über 130.000 Badegäste – tragen auch zu einem beachtlichen wirtschaftlichen Erfolg bei. Statt ca. 800.000 Euro jährlicher Betriebskosten in vergleichbaren städtischen Bädern zahlt die Stadt Schwerte seit Jahren nur einen Zuschuss von 50.000 Euro.
  • Die Eintrittspreise halten dem Vergleich mit städtisch Bädern stand: Erwachsene zahlen drei Euro, Kinder die Hälfte. Die Jahreskarte kostet 46 bzw. 28 Euro.
  • Die Attraktivität der Bäder erklärt sich aus einem Mix aus Bürgerengagement und “ Unternehmens-Lust“. Das wird an der Gestaltung der Einnahmen und Ausgaben deutlich, lässt sich aber z. B. auch an den Öffnungszeiten beobachten. Sie sind zumeist umfangreicher und flexibler. So muss man in warmen Sommernächten nicht mehr über den Zaun klettern, sondern wird zum Mondscheinschwimmen mit Musik und Lichtinspirationen ins Bürgerbad eingeladen.
  • Es zeichnet sich eine neue Generation von Vereins- und Bürgerbädern ab. Bisher musste der Erhalt der meisten Bäder – wie in Schwerte – konfliktreich gegen den Willen von Kommunalpolitik und -verwaltung erkämpft werden. Nun erkennen immer mehr Kommunen die Bürgerbäder als Chance.
  • Unverkennbar kommen immer mehr Kommunen zu der Erkenntnis, dass die Übertragung der Bäder zu mehr Qualität und zu einer neuen Form der Beteiligung der Bürger/innen an der Gestaltung ihrer Stadt beiträgt.

Diese Verhaltensweise entspricht den ursprünglichen Sozialstrukturen indigener Völker und den natürlichen Bedürfnissen aller Menschen in vor-patriarchaler Zeit.

Ein Mann, der indigenen Dagara in Afrika drückt es besser aus, als ich es könnte:

Eine echte Gemeinschaft beginnt in den Herzen ihrer Menschen. Sie ist kein Ort der Zerstreuung, sondern ein Ort des Seins. Sie ist kein Ort, wo man Reformen durchführt, sondern ein Ort der Heimat.
Eine Heimat zu finden – das ist es, wonach Menschen in einer wirklichen Gemeinschaft streben und was sie dort auch erreichen.
In einer Gemeinschaft ist es möglich, eine „helfende Präsenz“ zu schaffen, statt dass einer dem anderen misstraut oder mit ihm konkurriert. Es liegt ganz an den anderen, wie sich der Einzelne fühlt. (aus Malidoma Somé, Die Kraft des Rituals – Afrikanische Traditionen für die westliche Welt S.77)

Für die Bäder heißt das: Aus Sicht der Kommunen besteht das beste Ergebnis einer vertraglichen Übertragung nicht darin, möglichst viel Geld einzusparen. Vielmehr zeichnet sich ab, dass den Kommunen ein qualitätsvoller und nachhaltig gesicherter Betrieb zunehmend wichtiger ist – eine ebenso erfreuliche wie unspektakuläre1 Entwicklung, die vielleicht auf ein neues Verhältnis von Staat und Gesellschaft hindeutet.

Brauchen oder wollen wir wirklich den Sozialstaat?

Der Spiegel dazu:

Viele hielten die Soziale Marktwirtschaft für das Endstadium der Geschichte und müssen sich nun einen kolossalen Irrtum eingestehen. Der Kapitalismus hat mit Hilfe eines globalen Arbeits- und Finanzmarkts seine Reichweite gesteigert, derweil das Soziale an Reichweite verlor. Der Markt hat an Kraft, Geschwindigkeit und scheinbar auch an Unvermeidbarkeit gewonnen. Der soziale Triumph von gestern aber ist verblasst.

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Foto: Freibad am See, Wetter

  1. Indigene Gesellschaften sind nicht spektakulär. Deshalb werden ihre Strukturen von Reisenden in Länder, wo es diese Strukturen noch gibt, überhaupt nicht erkannt. Wer weiß denn, welche Gesellschaftsordnung dahinter steht, wenn man in einem kleinen Dorf im ländlichen Bali oder im südamerikanischen Hochland von den Leuten eine Mahlzeit oder einen Schlafplatz kauft? Viele große Kreuzfahrtschiffe legen vor der Fahrt durch den Panamakanal bei den Kuna an und kaufen ihre schön bestickten Blusen. Wie die Kuna leben, bleibt dabei unbekannt. []