Wie fehlende Worte das Weltbild spiegeln (Glosse)

Fehlende Worte in anderen SprachenZu immer mehr Unruhe führt die Tatsache, dass es in indigenen Gesellschaften bestimmte Ausdrücke und Wörter nicht gibt, an die der „zivilisierte“ Durchschnittsmensch gewöhnt ist.
Noch nicht bekannt ist, wie diese Menschen ein solches Manko überleben konnten. Bei den Khasi in Nordindien fehlen die Worte für „Prostitution“ und „Vergewaltigung“ völlig; ein Alptraum für jeden Freier der Industrieländer. Das Gleiche ist für die Nagar in Südindien und viele andere Stammesvölker weltweit bekannt.

Von den Mosuo (China) wird berichtet, dass dort der Begriff für „Diebstahl“ nicht vorhanden ist. In seinen Reisebeschreibungen über die Inuit (Eskimos) erwähnt der bekannte Polarforscher Fridtjof Nansen, dass es keine Ausdrücke für Gewalttaten gibt, ein Wort für „Mord“ etwa, existiert nicht.
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Der Journalist John Nance berichtet von seinen Forschungen auf den Philippinen, dass die dortigen indigenen Tasaday die Ausdrücke „Krieg“ und „Konkurrenz“ nicht verstehen. Noch nicht geklärt ist, wie so das tägliche Leben bewältigt werden kann. Westliche Experten fragen sich erschüttert, was das für Zustände sein müssen und wie wohl die Politik funktioniert?

In den Ashanti-Sprachen Afrikas gibt es kein althergebrachtes Wort für „Wahl“, also den politischen Entscheidungsprozess, wo Personen gewählt werden. Vermutungen legen nahe, dass solche Gesellschaften einfach friedlich zusammen leben, es fehlt also jeglicher moderne Fortschritt.

Alarmierend ist auch die Gotteslosigkeit dieser Ethnien. In ihren Sprachen gibt es weder Worte für „Gott“ noch für „Göttin“, dafür reden sie mit Geistern und Ahnen und sogar mit der Natur. Mitleidige Missionare versuchen dagegen anzukämpfen und Ethnologen mildern diesen Furcht erregenden Mangel, indem sie in ihren Büchern einfach die Geister- und Naturbezeichnungen mit „Gott“ übersetzen. Geist, Gott – wo ist da der Unterschied? Hier zeigt sich praktisch gelebte Entwicklungshilfe.

Der afrikanische Dagara-Schamane Malidoma Somé, Autor des Titels „Wir haben kein Wort für Sex“ (We have no word for sex), teilt mit, dass sein Volk auch keinen Begriff für „Zeit“ kennt. Und ein Nukak-Indigena vom Amazonas antwortete kürzlich auf die Frage, ob er über die Zukunft besorgt sei: „Zukunft? Was ist das?“. Diese Menschen ohne Zeit- und Zukunfts-Konzept haben offensichtlich noch nicht erfasst, was das Stündlein geschlagen hat!

Noch verwirrender für hochdotierte westliche Wissenschaftler sind die Begriffe, die zwar vorhanden sind, wo aber ein einzelnes Wort gegensätzliche Dinge meint. Als westliche Finanzleute hörten, dass die nordamerikanischen Indianer in ihren Sprachen ein und denselben Ausdruck für „geben“ und „zurück geben“ (revanchieren) gebrauchen, waren sie bis ins Mark erschüttert.

Bei den Ashanti (Afrika) oder den Mosuo (China) heißen alle Schwestern der Mutter ebenfalls „Mutter“. Wie soll ein Kind da wissen, wem es „gehört“? Auf den Trobriandinseln gibt es nur ein einziges Wort für „Schwester“ und „Bruder“: Luleta. Wenn eine Frau spricht, bedeutet Luleta „Bruder“ und wenn ein Mann spricht bedeutet es „Schwester“.
Was auf den ersten Blick nach einer chaotischen Vetternwirtschaft aussieht, muss uns nicht beunruhigen, denn es gibt gar keine Worte für Vettern und Basen, die werden als „Brüder“ und „Schwestern“ bezeichnet.

14 Kommentare

  • Ursula Honerlage

    Am besten finde ich den letzten lesbaren Abschnitt:
    "Vermutungen legen nahe, dass solche Gesellschaften einfach friedlich zusammen leben, ES FEHLT ALSO JEGLICHER  MODERNER FORTSCHRITT…"
    auch wenn es traurig ist diese Definition, muss ich doch lachen…, weil sie so wahr ist und "moderner Fortschritt" für wichtiger gehalten wird als >friedliches Zusammenleben<. Genau dieses halte ich für die Seuche unserer Zeit… Wörter wie Fortschritt, bedeuten halt nicht mehr Entwicklung sondern einfach fortschreiten am Leben vorbei…

  • richard

    Ein Bekannter von mir, Kanzler einer Uni sagte einmal:

    "Solche Völker entwickeln sich nicht weiter."

  • Günter König

    Es kommt mir eher so vor, als ob wir uns schon schrecklich weit vom natürlichen Leben weg entwickelt haben!

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  • Undine

    Wie kommst du, liebe Hannelore, darauf, dass diesen Völkern diese Worte ‚fehlen‘?Ich habe eher den Eindruck, bei uns sind diese Wörter zu viel … :)’Fehlen‘ hört sich so an, als wüssten diese Leute, was diese Worte bedeuten, aber sie sprechen einfach nicht darüber. Nein, ihnen fehlt nicht das Wort, ihnen fehlt der Tatbestand. Uns fehlen viele Worte. Was zum Beispiel ist das, wenn ein Mädchen immer mit rosa assoziiert wird, und ein Junge mit blau? Ein Vorurteil? Mehr, würde ich sagen. Oder was ist das, wenn Jungen mehr Verantwortung zugesprochen wird als Mädchen, aber von Jungen weniger Verantwortung eingefordert wird als von Mädchen? Eine Heuchelei? Schizophrenie? Mehr, würde ich sagen. Aber darüber können wir nicht sprechen, denn da fehlen uns wirklich die Worte.Übrigens, haben wir denn Worte für ‚Sex‘? Wenn ja, wüsste ich es gerne. Ich habe doch ab und an Bedarf, darüber zu sprechen, so wie ich es erlebe. Zärtlich, zum Beispiel. Oder romantisch. Oder wie auch immer, Hauptsache, es tut mir gut, und das möchte ich ausdrücken. Nur mit welchen Worten? Die einzigen Worte, die wir für Sex haben, sind: Prostitution und Vergewaltigung. Unterentwickelt sind also wir selbst, denn wir haben für viele Tatbestände einfach keine Wörter. Was nun? Wörter erfinden, oder die Tatbestände abschaffen?LGUndine

  • Stefan

    Da möchte ich beispielhaft nur mal zu der "Mutter"-Bezeichnung anmerken, das selbst scheinbar völlig sprachlose Tiere ein Konzept der Mutterbindung leben, selbst wenn in sozialen Gruppen auch andere zeitweise die Betreuung übernehmen. Der Mangel an sprachlicher Divergenz zeigt uns also nicht rückbezüglich, eine wirkliche Gleichstellung derer, die unter gleichem Namen genannt werden. Ebenso wie der Mangel an einem Wort für Mord, nicht heißen muß, daß es diesen nicht gibt. Das scheint mir doch etwas zu optimistisch, und vermutlich haben die Eskimos für ein mittlerweile vorhandenes Problem, der Alkoholabhängigkeit, auch kein passendes Wort mitgeliefert bekommen.

  • Stefan

    Ihr Kommentar muss erst noch freigeschaltet werden.Na wenigstens gibt es hier einen Begriff für Zensur 🙂

    Anmerkung HV: Schon mal was von Spam gehört? Willst du hier über Vi#gra lesen oder die Ergüsse von Trolls? Manchmal schalte ich die Moderierfunktion (kostet mich extra Zeit) ab, bis mich das Leben wieder einholt 😉

  • Interessant finde ich den letzten Abschnitt: Luleta. Wie schön, dass es gleichzeitig Bruder und Schwester heisst und dass die Bezeichnung "Mutter" auf andere Frauen in der Familie ausgedehnt wird. In so einer Gesellschaft würde ich mich wohlfühlen!

  • melufee

    Gelegentlich schreibe ich es, vor allem, wenn unsere Medienleute ständig mit dem Begriff "Kultur" hantieren: Kulturvölker kennen den Begriff Kultur gar nicht. Sie leben Kultur und darum brauchen sie kein Wort dafür.
    In unseren Medien klebt die Kultur an allem und jedem. Weil Kultur längst umgebracht wurde? Und weil man sie gern wieder hätte?
    melufee

  • kopflast

    Das es hier und da an Worten fehlt, den Eindruck habe ich auch. Dabei haben wir schon so viele und immer noch reicht keine Sprache und keine Begriffdatenbank an eine vollständige Beschreibung des Sachverhaltes heran, die wir allgemein Leben nennen.
    Sich mit den fehlenden und überflüssigen Worten zu befassen ist jedoch überaus lohnend, erfahren wir doch dabei eine ganze Menge über uns selbst und die Begriffe die unser Denken und Fühlen so sehr bestimmen.
    Ein anregender Gedankengang inspirierend artikuliert.
    😉

    P.S. Ja, der liebe Spam. Da hat man es schon nicht leicht.

  • senior_w

    Zu kopflast: Es gibt in der Tat Worte, die wir besser nicht hätten, denn sie verraten zu viel über unser Denken und Fühlen. Beispiel: Wir essen Schweineschnitzel und wissen was das ist. Was aber sind Jägerschnitzel und Zigeunerschnitzel auf der Speisekarte? 

  • @ senior_w:

    in der Glosse werden Begriffe unter dem Aspekt der Soziolinguistikbzw. Sprachsoziologie verwendet, im Sinne dieses Blogs, der sich mit sozialem Verhalten in der Gesellschaft beschäftigt. Deine Beispiele beziehen sich auf die witzigen grammatikalischen Zusammensetzungen im Deutschen, die die Etymologie erklären kann.

  • Knappinger

    Hallo!
    Könnte es nicht sein dass gerade solche Völker schon weiter sind als wir? Warum sollten sie sich in die falsche Richtung weiterentwickeln?
    Könnten wir uns vielleicht dort hin zurück „Entwickeln“?
    Ein Ureinwohner Australiens hat ganz erstaunt zugesehen, wie ein Team von weißen Menschen eine Telefonzelle aufgestellt hat.
    Danach kam die Frage, wozu das gut sei? Eine der Techniker erklärte dem Mann, man kann sich darin mit Freunden unterhalten und ihnen Mitteilungen zusenden. Darauf der Australier, was so rückständig seid ihr, dass man bei Euch Geräte braucht, um miteinander zu kommunizieren, wir schicken solche Infos einfach mit den Geist.

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