Wie Sprache ein partnerschaftliches Miteinander bewirkt

Aymara

Aymara

Aufzeichnungen der Linguistin Martha James Hardman (Quelle siehe unten):

Gespräch und Sprache sind bei den Jaqi1 – ein Volk in den Anden – etwas, das als Anerkennung von angemessenem menschlichen Verhalten gegeben wird; Sprachverweigerung ist eine Sanktion für die, die sich wie Tiere verhalten.

Und so sprechen Frauen und Männer viel, obwohl Europäer sie für schweigsam halten. Diese Schweigsamkeit sagt etwas darüber aus, wie sich die Europäer verhielten und verhalten!

Was Jaqi-Frauen und -Männer uns voraus haben und wovon wir lernen können, in Bezug auf

  • Kinder
  • Einbezogen-Sein
  • Konsens
  • Den Erwartungen der Eroberer entsprechen
  • Gleichheit in der sozialen Struktur
  • Heirat
  • Politik
  • Geld

Kinder

Kinder müssen sich das Recht zu reden verdienen. Sie lernen, dass sie auf jeden Fall immer die Gegenwart anderer Menschen anerkennen müssen, indem sie grüßen. Wenn ein Kind das nicht tut, wird jemand es zurechtweisen, entweder weil es sich wie ein Tier verhielt oder weil es andere wie Tiere behandelte.

Aymara-Mutter trägt ihr KInd

Jaqi-Kinder sind bei allen Anlässen dabei.

Kinder nehmen im allgemeinen nicht an den Unterhaltungen von Erwachsenen teil, haben aber immer das Recht zuzuhören. Sie werden nie daran gehindert, das Verhalten Erwachsener wahrzunehmen, von der Zeit, die sie auf dem Rücken ihrer Mutter verbringen, bis sie erwachsen sind.

Indem sie lernen zuzuhören, lernen sie auch, andere zu respektieren, ein zentraler Wert, der durch die Jaqi-Grammatik mit der ständigen Betonung und Markierung der zweiten Person (Du) verstärkt wird.

Eine Dorfversammlung in den Anden besteht aus allen Erwachsenen im Saal, jedeR mit einer Stimme, und aus allen Kindern, die an den Fenstern hängen und zuhören. Von einem Kind wird erwartet, dass es hört, was gesagt wird. Es kann sogar von Erwachsenen, die nicht bei einer Versammlung waren, gefragt werden, was gesagt wurde, und wird es mit großer Präzision wiedergeben.

Gespräche im Englischen oder Deutschen, besonders zwischen Frauen und Männern, sind reich an unterdrückenden Mechanismen. Vor allem sind es Frauen, an die sich diese Mechanismen wenden.

„Ich habe nie etwas ähnliches bei den Jaqi beobachtet.“

Manchmal, wenn Unterbrechungen an der Tagesordnung sind, wie z. B. wenn es um die Verteilung der Bewässerung geht, schreien alle und unterbrechen einander. Im allgemeinen sind die Frauenstimmen laut und nicht unterwürfig. Wenn die Stimmen von Frauen und Männern unter dem Blick der Eroberer leiser werden, tun sie auch das noch in gleicher Verteilung.

Involviertheit (Zugehörigkeit, Einbezogensein)

Eine interessante Eigenschaft der Jaqi-Gespräche ist die konstante Rückmeldung, die der Sprecherin vom Hörer gegeben wird. Eine spezifische Form, ha, deutet an, dass man zuhört; während einer Erzählung kommt sie etwa alle sechs Worte vor und wird von Frauen und Männern produziert, gleich ob eine Frau oder ein Mann erzählt.

Es ist weiterhin von Interesse, dass die Jaqi-Sprachen ihre Verben mit einem Suffix für Tadel und mit einem für Lob markieren. Sie werden beide häufig verwendet, und obwohl sie bei uns Dominanz signalisieren würden, tun sie das bei den Jaqi nicht, sondern drücken Involviertheit aus.

Anmerkung: Die Autorin spricht hier von Lob und Tadel, Worte aus dem eigenen Paradigma. Traditionelle Gesellschaften tadeln und loben nicht, d.h. sie bewerten nicht die Handlungen anderer. Gemeint ist hier das Signalisieren von „Übereinstimmung“, was als Lob, oder eines „Hilfesangebots“, was als Tadel interpretiert wird. [HV]

„Als ich zum ersten Mal nach Sorata ging, trug ich mein Baby auf meinem Rücken, wie ich es bei den Jaqaru-Frauen gesehen hatte, aber mit einer amerikanischen Decke. Ich war noch keine fünfzig Meter gegangen, als eine Aymara-Frau mein Baby für mich zurechtrückte und mich wegen der Qualität der Decke ausschimpfte. Die Frauen von Sorata machten mir später eine richtige awayu, in der mein Sohn und alle meine anderen Kinder dann ordentlich getragen wurden.

Als Ausländerin hatte ich einen höheren gesellschaftlichen Status, aber da ich mein Baby in der Jaqi-Art trug, hatte ich Involviertheit gezeigt, und diese wurde mit einem Tadel (Hilfsangebot) und einer Empfehlung beantwortet.“

Ein anderes Beispiel ist eine Besprechung von Amtsträgern – alle Männer – in der Stadtmitte.

„Eine Frau kam vorbei, unterbrach die Männer und schimpfte sie ziemlich gründlich wegen ihrer städtischen Politik aus; danach ging sie weg und ließ sie weiter machen. Innerhalb der Jaqi-Verhaltensweisen war das ein völlig akzeptables Verhalten und zeigte ihre Involviertheit in Gemeindeangelegenheiten.“

Eine Anweisung ist ein dominanter Sprechakt und darf daher nur wenig benutzt werden, außer mit Kindern. Das anstößige Verhalten von Außenstehenden, hauptsächlich Priestern und anderen Würdenträgern, besteht in ihrer Annahme, dass sie das Recht haben, mit jedermann den Imperativ (Befehlsform) zu benutzen.

Das Verständnis der Jaqi ist es aber, dass die „Autoritäten“ (z.B. die Ältesten) diejenigen sind, die das Recht zu empfehlen oder zu lehren haben, nicht aber zu befehlen.

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Autoritäten, wie dieser Yatiri, der sich bereit macht, um aus Coca-Blättern zu lesen, haben eine größere Verantwortung, aber keine höhere Stellung.

Die höchste Autorität ist die oder der yatiri – eine Person, die Wissen hat, Frau oder Mann, die als intellektueller Ratgeber bei der Integration von neuem Wissen in das gesellschaftliche Gewebe fungiert – eine intellektuelle Rolle, die von Außenstehenden sehr missverstanden wird.

Die Autoritäten haben größere Verantwortung, aber nicht höheren Status! Wer immer man ist, man hütet immer noch seine Tiere und bewässert seine Felder.

Verantwortung für die Gemeinschaft bedeutet mehr Arbeit, mehr Prestige, mehr Respekt, aber nicht höheren Status. Jedes Kind lernt, dass sein Platz in der Gesellschaft von seiner Reife und Produktivität abhängt, was ihm von Kindheit an einen Platz und eine gewisse Würde gibt.

Wie in allen autochthonen2 Gesellschaften sprechen auch bei den Jaqi in manchen öffentlichen Arenen nur Männer. Entscheidungen für die ganze Gemeinschaft können jedoch hierbei nicht getroffen werden.

Wenn z.B. Bauunternehmer, die die Männer für verantwortlich halten, solche Versammlungen abhalten, merken sie erst am nächsten Tag, dass das, was beschlossen wurde, noch nicht beschlossen ist. Ein Mann allein kann keine Entscheidung für eine Gemeinschaft treffen, die aus allen Jaqi besteht – eine solche Entscheidung muss von allen Erwachsenen getroffen werden (Konsensentscheidung).

Erfahrung ist die Grundlage für alles Wissen; Wissen kommt deshalb aus der Erfahrung aller Jaqi – Frauen wie Männer. In einer Sprache, in der die Hauptkategorien menschlich und nicht-menschlich sind, ist Wissen durch Erfahrung ein Teil der linguistischen Konstruktion von Gleichheit.

Ohne eine Markierung für die Quelle von Daten zu sprechen, – also die Quelle nicht nur zu zitieren, sondern die entsprechende Person zu nennen – ist so, als hätte man göttliches Allwissen; das wird wahrgenommen, als würde man andere nicht respektieren.

Aus dem gleichen Grund legen Jaqi auch anderen keine Worte in den Mund und interpretieren die Worte anderer nicht; sie zitieren direkt und ausführlich und markieren die Quelle ihrer Daten. Frauen und Männer unterhalten sich ohne Schwierigkeiten, ausführlich und ohne geschlechtsspezifische Dominanz. Dies ist eine hoch entwickelte Fähigkeit sozialen Verhaltens, das in patriarchalen Industriegesellschaften völlig verloren gegangen ist.

Konsens

Wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, z.B. über die Vererbung von Land oder die Landarbeit, dann wird so lange geredet bzw. geschrien, bis Konsens hergestellt ist.

So müssen Frauen und Männer sich über die Zeiten für die Bewässerung der Felder einigen; dabei schreien die Frauen genauso laut wie die Männer.

Die Verteilung der Erntearbeit muss ebenso unter Frauen und Männern ausgehandelt werden.

Bei all diesen Gelegenheiten finden sich Frauen und Männer in aktiver Interaktion, und die gleichgewichtige Art, wie sie gemeinsam Entscheidungen treffen, wird durch bestimmte Eigenschaften der Sprachstruktur unterstützt, z.B. durch die überstarke Markierung der zweiten Person (das Du ist so wichtig wie das Ich) oder durch die Angabe der Datenquelle (die eigene Erfahrung jedes Menschen zählt).

Typisch für indigene Völker, wird bei den Jaqi ein Liebespartner nicht Clanmitglied, obwohl beide –  Mann und Frau – Mitglieder der Familie ihrer Kinder sind. Es gibt keinen einzelnen Haushaltsvorstand.

Familie ist nicht einmal ein Begriff, und es gibt keine Übersetzung für das Wort Familie in den Jaqi-Sprachen, obwohl es viele Bezeichnungen für Verwandte gibt.

Außerdem kommen weder Hausfrauen noch Hausmänner vor; einen Haushalt führen ist keine Funktion. Wenn irgendwo gekehrt werden muss, tut es die Person, die sich daran stört, oder sie beauftragt ein Kind, es zu tun. Häuser sind hauptsächlich Orte, in denen man schläft oder etwas aufbewahrt, aber nicht Orte, die irgend jemand sauber halten muss. In unseren Augen ist jedoch nachlässige Haushaltsführung ein negatives Klischee, das wir mit „Indianern“ und anderen „Primitiven“ verbinden.

Auf der anderen Seite ist die Sauberkeit von Körper und Kleidern wichtig. Erwachsene sind für die Sauberkeit von Kindern verantwortlich und jede Person für ihre eigene Sauberkeit.

Den Erwartungen der Eroberer entsprechen

Wenn man auf spanisch fragt, wer die Kleider wäscht, dann ist die Antwort, dass es Frauen tun. Als ich jedoch zum ersten Mal bei den Jaqi lebte, kritisierte mich ein Mann für die Art und Weise meines Waschens und zeigte es mir bzw. tat es für mich. Einmal konnte ich von meinem Haus aus die Waschstelle am Fluss sehen, und ich zählte oft, wie viele Frauen und wie viele Männer dort wuschen; es waren nie mehr Frauen als Männer.

Wenn man auf spanisch fragt, wer kocht, dann ist die Antwort auch, dass es Frauen tun. In Wirklichkeit kochen sowohl Frauen als auch Männer gleich häufig. Nahrung und Kleidung sowie Bewässerung und das Hüten von Tieren sind gemeinsame Jaqi-Interessen und gehen alle an.

Dies erklärt die Tatsache, dass besonders männliche AnthropologInnen häufig zu Schlüssen kamen, die Stammesgesellschaften völlig verzerrt , bzw. durch die patriarchale Brille gefiltert, darstellten.

Gleichgewicht in der sozialen Struktur

Wenn das erste Kind ein Mädchen ist, dann sagt man, dass die Ehe glücklich ist. Namen werden aus Prestigegründen gewählt und sind häufig kompliziert. Die Nachnamen kommen von Mutter und Vater. Leute in den Anden ändern ihren Namen nicht, wenn sie heiraten. Nach spanischem Gesetz verlieren die Enkelkinder den Namen ihrer Großmutter, aber das Kind nimmt das nicht so wahr und verliert dadurch nicht an Identität. Da die meisten Leute ihren Stammbaum fünf Generationen zurück vortragen können und es auch jedes Mal, wenn sie sich vorstellen, tun, mag der Name zwar gesetzlich verloren sein, aber er ist auf keinen Fall vergessen!

Ihre Identität und die Verwandtschaftsbeziehungen mit ihren Vorfahrinnen mütterlicherseits werden bei einem Mädchen jedes Mal neu bestätigt, wenn sie einer neuen Person vorgestellt wird.

Das Baby verbringt seine Zeit nahe an der Mutter – der Körperkontakt wird nur selten unterbrochen und dann nur aus Arbeitsgründen.

„Ich besitze Fotografien von Frauen, die mit ihren Babys auf dem Rücken tanzen. Es hat mich sehr beeinflusst, dass ich Frauen beobachten konnte, die ein erfülltes Leben außerhalb ihres Hauses mit den Babys auf ihrem Rücken führten, und es eröffnete mir Möglichkeiten, die es in meiner eigenen Kultur nicht gibt.“

Die Kinder lernen den Arbeitsrhythmus ihrer Mütter und spielen harmonisch im Körperkontakt mit ihren Müttern. Sobald sie anfangen zu laufen, begleiten sie auch ihre Väter bei deren täglichen Aufgaben. Mädchen gehen vielleicht mehr mit ihren Müttern und Jungen mehr mit ihren Vätern mit, aber das hängt auch von ihrem Alter und den Arbeiten ab, die es zu tun gilt. Abends am Feuer beim Essen sitzen die kleinen Mädchen eng an ihre Mütter gekuschelt, in ständigem bestätigendem Kontakt mit ihnen.

Je größer ein Mädchen wird, desto mehr wird sie an der Arbeit beteiligt. So wie sie immer mehr Wasser in immer größeren Behältern trägt, so bringt sie immer größere Zweige zum Feuer, bis sie später schwere Holzladungen tragen kann. Sie fängt auch an, ältere Geschwister mit ihren Tieren zu begleiten, und mit fünf oder sechs Jahren kann sie schon die Schafe oder Ziegen der Familie hüten. Später werden es mehr Tiere, Schweine und Kühe kommen dazu. In der gleichen Weise lernt sie die Landwirtschaft. Zunächst sitzt sie bei ihrer Mutter und lernt, Mais zu schälen, dann lernt sie, die Körner zu sortieren in solche für Samen, Nahrung und für den Markt. Ähnlich ist es mit Kartoffeln. Am Anfang zerstampft sie die gefriergetrockneten Kartoffeln, dann lernt sie, sie zu lagern und wieder zu sortieren. Langsam lernt sie die komplizierte Ökonomie von hundert verschiedenen Kartoffelsorten und welche für welchen Zweck am besten geeignet sind. Sie wird kompetent und erhält und erwartet Respekt.

Sie wird stark.

Als ich zum ersten Mal bei den Jaqi lebte, entdeckte ich, dass Frauen, die dreißig Zentimeter kleiner und zwanzig Jahre älter als ich waren, zweimal so viel wie ich tragen konnten.

Plötzlich wurde mit klar, dass ich meine Schwäche gelernt hatte; Jaqi-Frauen lernen etwas anderes.

Jaqi-Kinder werden gnadenlos „verwöhnt“ – das einzige Korrektiv ist die Verantwortung bei der Arbeit, die alle Kinder tragen müssen. Das Ziel der Erziehung ist immer Konsens und nicht Befehl und Gehorsam. Während das Mädchen die schwere Bürde der Arbeit lernt, lernt sie auch die Wichtigkeit des Spiels und des Vergnügens. Von Anfang an, wenn sie auf dem Rücken der Mutter Musik und Tanz erlebt, lernt sie, dass Spiel und Arbeit verbunden sind.

Heirat

Junge Mädchen hören früh, dass Ehe kein Idealzustand ist und dass, wenn eine Frau gut leben und sogar reich werden will, sie nicht heiraten sollte. Ehe und Liebe werden nicht romantisiert. Im Gegenteil, es gibt sogar eine rituelle Klage, die alte Frauen in Gegenwart von jungen unverheirateten Frauen anstimmen, um sie auf die Gefahren und Tücken der Ehe aufmerksam zu machen. (Ehe im patriarchalen Sinn, wohlgemerkt, denn in indigenen Gesellschaften gibt es ursprünglich keine Einrichtung wie unsere Art der „Ehe“. Anm. H.V.) Auf der anderen Seite ist emotionale Befriedigung gut, und ein Mann, der nicht faul ist, kann eine große Hilfe sein beim Bewässern und Pflügen und Haus- und Kinderhüten, wenn die Frau zum Markt muss.

Glücklicherweise räumt das Jaqi-System dem jungen Paar Zeit ein, sich kennenzulernen. Freundschaft zwischen Jungen und Mädchen entwickelt sich schon im Alter von fünf oder sechs Jahren in den Feldern, gefolgt von Werben – auch in den Feldern. Das Hüten der Tiere ist eine äußerst soziale Aufgabe, da die Kinder versuchen, die Tiere dorthin zu bekommen, wo sie ihre Lieblingsfreunde treffen können. Kinder und Teenager tragen Steinschleudern, angeblich wegen der Tiere, mit deren Hilfe sie aber Kontakte herstellen. Wenn ein Mädchen einen Hirten sieht, mit dem sie reden möchte – sich verlieben oder lieben heißt auf Jaqaru arishi, „miteinander sprechen“ -, dann wirft sie einen Stein in seine Richtung. Wenn der Wurf beantwortet wird, dann kann das „Gespräch“ beginnen.

Sogar in anscheinend arrangierten Ehen kommt später und heimlich die Wahrheit heraus, nämlich, dass vorher schon viel passiert ist – in den Feldern – und dass die jungen Leute ihre Eltern dazu brachten, die schon bestehende Beziehung zu formalisieren.

Die Fiktion, dass vor der Ehe nie „gesprochen“ wurde, hat nur die Anthropologen und vor allem die Priester und Missionare zum Narren gehalten.

Heirat ändert die Identität einer Jaqi-Frau nicht. Ebenso wie ihr Mann bleibt sie Teil ihrer Ursprungsfamilie.

„Nie hat sich eine Frau in den Anden bei mir mit dem Namen ihres Mannes vorgestellt.“

Das Wichtigste für Jaqi-Frauen ist, dass sie die Kontrolle über ihre eigene Reproduktion haben. Es gibt Kräuter zum Abtreiben, es gibt Enthaltung und vielleicht einige Verhütungsmittel aus der Stadt, aber billige, effektive und sichere Verhütung existiert nicht. Oft werden daher Schwangerschaft und Geburt voll Ambivalenz begrüßt. Auf der einen Seite sind Kinder willkommen, denn wer sonst sollte sich im Alter um einen kümmern, wer sollte einen begleiten, wer sollte einem bei all der Arbeit helfen.

Andererseits, zu viele Kinder oder zu früh sind eine furchtbare Last. Bei einer guten Entbindung und keinen allzu großen Sorgen ist die Geburt eines Kindes etwas Gutes. Vor allem wenn das Kind ein Mädchen ist, empfindet die Mutter eine tiefe Befriedigung. Nicht nur ist ein Mädchen ein Zeichen für eine gute Liebesbeziehung, sondern das Mädchen wird der Mutter auch Gesellschaft leisten und Wohlstand bringen.

Aber auch wenn das Kind ein Junge ist, ist es gut, denn er wird nicht so hart arbeiten müssen und vielleicht wird er in der Schule Glück haben und damit auch in der großen Stadt.

Nach Ansicht der Jaqi sind Frauen produktiv. Eine interessante Metapher ist die Verbindung zwischen Frauen und Samen; Frauen haben die Verantwortung für die Samenauswahl und für das Pflanzen von einem Jahr zum anderen.

Im Gegensatz dazu gibt es eine schwere Beleidigung, q’ara, mit der Bedeutung nackt, die für Männer verwendet wird, die unverheiratet und ohne Landbesitz sind und anderen Menschen sagen, wie sie leben sollen.

Diese Metapher beschreibt natürlich am besten weiße Priester und manchmal Jungen, die von der Schule heimkommen. Dieses Wort kann nicht für Frauen verwendet werden, denn dass Frauen so unproduktiv sein können ist unvorstellbar.

„Ich habe in keiner der Jaqaru-Sprachen je einen Witz auf Kosten von Frauen gehört, und es gibt auch keine feststehenden Wendungen, die sich gegen Frauen richten.“

Eine Frau schuldet dem Clan ihres Mannes Arbeit und Rücksicht, denn sie gaben ihr ein produktives Familienmitglied. Das gleiche schuldet der Mann dem Clan seiner Frau für den Verlust eines produktiven Familienmitglieds.

Beide können auf ihre Clans zurückgreifen, wenn sie Hilfe brauchen, um z.B. ein Fest zu veranstalten oder Felder zu bewirtschaften. Das Verb ‚helfen‘ basiert in allen drei Jaqi-Sprachen auf dem Wort für Kamerad. Yanhshutma, d.h. hilf mir, bedeutet buchstäblich „komm und sei mein Kamerad“. Kameradschaft ist nichts anderes als Hilfe.

Politik

Ein Mann kann nur für sich selbst sprechen. Wenn er für seine Familie sprechen will, braucht er die Meinung und Einwilligung seiner Frau.

Deshalb besucht er Versammlungen mehr in der Rolle eines Berichterstatters als eines Mitglieds, das entscheiden kann. Wenn nötig, übernehmen die Frauen die Kontrolle über eine Situation und bekämpfen z. B. eine Landübernahme. Im allgemeinen aber haben sie wichtigere Dinge zu tun, als in Versammlungen zu sitzen. Da sie das Geld verwalten, kann nichts Wesentliches ohne sie passieren.

Neuerdings werden aber Gelder von der Regierung oder internationalen Hilfsorganisationen in die Hände von inkompetenten Männern gegeben, von denen sie hauptsächlich vergeudet werden.

„Jede Frau weiß, dass Männer nicht mit Geld umgehen können, und sogar in den Städten werden Frauen in männerzentrierten Organisationen als Schatzmeisterinnen vorgezogen.“

Die typische Struktur war, dass alle Ämter von einem Paar, einer Frau und einem Mann, besetzt werden, da beide für notwendig und für komplementär gehalten wurden. So haben z.B. beim Verfassen der Grammatik für die Aymarasprache, auf besonderen Wunsch der Aymara selbst, zwei Aymara-Autorlnnen, eine Frau und ein Mann, mitgewirkt, weil es selbstverständlich ist, dass niemand die Sprache von einem Mann allein gut lernen kann.

Geld

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Aymara-Marktstand - Einige Frauen betonen ihre Marktaktivitäten mehr und betrachten sich hauptsächlich als Geschäftsfrauen.

Jaqi-Frauen verwalten das Geld. Sie planen für die Gemeinschaft und sorgen, dass alle haben, was sie brauchen. Schon kleine Mädchen lernen, wie sie komplexe ökonomische Arrangements, die um Ernte, Tiere und Markt kreisen, machen können. Sie sind gut in der Arithmetik, die dazu nötig ist, und können z.B. Zinsraten auf Anleihen, Profitraten und Transportkosten berechnen und Preise für den Ein- und Verkauf von Waren festlegen.

Frauen können das unabhängig davon, ob sie eine Schule besuchten und ob sie schreiben und lesen können.

Ein kleines Mädchen lernt, dass sie eine Laufbahn als Bäuerin haben und andere Aktivitäten nebenher verfolgen wird. Einige Frauen betonen ihre Marktaktivitäten mehr und betrachten sich hauptsächlich als Geschäftsfrauen. (siehe auch Juchitàn) In Städten wie La Paz haben Frauen die Kontrolle über die Märkte. Markttraditionen werden oft von der Mutter auf die Tochter übertragen.

Viele, wenn nicht die meisten Frauen ergänzen ihre Einnahmen durch zusätzliche ökonomische Aktivitäten. Sie spinnen, weben, schneidern oder stricken, sie führen Pensionen und Restaurants. Manche bauen Alfalfa an, selbst wenn sie selber keine Kühe besitzen, und vermieten ihre Felder als Weideland im Austausch für Käse oder Geld. Einige besitzen Maulesel oder Pferde und vermieten sie als Lastenträger. Einige besitzen Laster. Vor allem lernt ein Mädchen, dass sie, um gut leben zu können, sich in viele verschiedene Richtungen entwickeln muss. Ihre Karriere als Bäuerin ist breit angelegt und erfordert vielschichtige Managementfähigkeiten.3

  1. Jaqaru ist eine Sprache in Peru, die wie das Aymara zur Aru-Sprachfamilie gehört. Sie wird in den Distrikten Tupe und Catahuasi in der Provinz Yauyos im Departement Lima gesprochen. Jaqi bedeutet Menschen und Jaqaru [= jaqi aru] Menschensprache []
  2. Indigene oder autochthone Völker sind nach einer international gebräuchlichen Definition marginalisierte Bevölkerungsgruppen, die Nachkommen einer Bevölkerung vor der Eroberung, Kolonisation oder der Gründung eines Staates oder einer Region sind. Sie verstehen sich als eigenständiges Volk und behalten ihre eigenen sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen bei. []
  3. Martha James Hardman in: Frauengespräche: Sprache der Verständigung.  Trömel-Plötz []

Ein Kommentar

  • Martina Bedregal Calderón

    Ich habe in Peru unter Aymará, Quechua und Machiguengua gelebt und gearbeitet und kann bestätigen, dass in all den drei Völkern die oben beschriebenen Sozialstrukturen, familiären und außerfamiliären Verhaltensweisen ähnlich waren. Vieles davon hat mir so sehr gefallen, dass ich es übernommen habe und auch auf die Erziehung meines Sohnes, der in Peru zur Welt kam und dort 7 Jahre seines Lebens aufwuchs, übertragen hat. Nun seit einigen Jahren wieder in Deutschland fühlen wir uns allerdings gelegentlich sehr fremd, empfinden das Umgehen der Menschen im Alltag hier als sehr unpersönlich, oft manipulativ und berechnend, empfinden wir oft eine Trennung der Kinder- und Erwachsenenwelt (was in Peru nie der Fall war), sehr materialistisch zum Nachteil des Menschlichen. Wir haben das gefühl, eine Rolle spielen zu müssen, während wir mit peruanischen Freunden udn Verwandten hier ganz anders sein können. Das Leben inPeru war nicht einfach, aber ich vermisse sehr die Art, wir man als Menschen dort miteinander umgenagnen ist, besonders innerhalb der indigenen Kulturen und Ansiedlungen. Ich beschreibe hier allerdings nur das Leben dieser Menschen in ihren eigenen Ansiedlungen. Das Leben in den Städten Perus war eine ganz andere Geschichte – es war in den Städten mehr von Stress, Gewalt, Kontaminierung, Machismo, Entwurzelung und Überlebenskampf geprägt…