Ganzheitlichkeit und Patriarchat, passt das zusammen?

(Comic-Fortsetzung von hier)

Ja, klug ist die Tante! Wie wir im letzten Beitrag gesehen haben, ist feministisches Gedankengut nicht der Weisheit letzter Schluss und vielleicht für die Entwicklung eines gesunden Selbstwertgefühls überflüssig oder sogar hinderlich.

Körper, Geist, Seele steht für eine Vorstellung von Ganzheitlichkeit. Worauf im Comic angespielt wird, ist die Erfahrung des Vollständig-Seins, das alle Aspekte des Lebendigen miteinbezieht. Und dies ist die Voraussetzung, sich selbst zu mögen, zu akzeptieren, zu respektieren.

Weil die wenigsten in unserer Gesellschaft wissen, wie uns das gelingen kann, wird der Begriff ganzheitlich für alle möglichen Therapien und Methoden missbraucht, die keineswegs zu Ganzheit führen. Es gibt tausende von Beispielen im Internet, nur eins sei hier angeführt: Das „Netzwerk Ganzheitlichkeit„, dort steht: „Für uns ist Ganzheitlichkeit in einem Satz beschreibbar: die Betrachtung eines Themas oder Problems aus möglichst vielen Blickwinkeln, bis sich ein stimmiges Bild ergibt.“

Für mich macht der Satz keinen Sinn, aber er ist typisch für den Umgang mit einem allgegenwärtigen, abgegriffenen Schlagwort im Dienst von Manipulation und Kommerz. Wie kam es zu der relativ häufigen Verwendung des Wortes „ganzheitlich“?

In den Konzepten der New-Age-Bewegung der 1970er und Anfang der 1980er Jahre drangen neue Überlegungen in den gesellschaftlichen Rahmen, die von Krise, Übergang und Paradigmenwechsel sprachen.

Fritjof Capra sieht in seinem Vorwort zu Marilyn Ferguson’s Buch „Die sanfte Verschwörung. Persönliche und gesellschaftliche Transformation im Zeitalter des Wassermanns“ (1980) ein „zu enges Weltbild“. Die sogenannte „New Age“ Bewegung tauchte im Kalifornien der 70er Jahre auf.

Die Anhänger des Neuen Zeitalters bezogen sich auf das Kommen einer neuen Ära, nämlich die des Wassermanns, welche durch einen Fortschritt der Menschheit geprägt ist, und zwar unter den Vorzeichen einer wiedergefundenen Harmonie und eines erweiterten Bewusstseins.

Dabei soll es auch zu einem Paradigmenwechsel in der Wissenschaft kommen. Das heißt, die mechanistischen Vorstellungen eines Isaac Newton oder Descartes sollen abgelöst werden durch holistische Konzepte, die u.a. aus der Quantenphysik, der Kybernetik und der Systemtheorie stammen.

Das mechanistische Weltbild versteht die Welt als Maschine, und diese mechanistische Anschauung wird bereits von Descartes auch auf lebende Organismen bezogen. Deshalb werden wir beim traditionellen Arzt durchgecheckt wie ein Auto beim TÜV und alle Werte kommen in Tabellen, die dann ihrerseits der Maßstab für die Gesundheit anderer Autos bzw. Patienten sind.

In den Gegensatz „altes, mechanistisches Weltbild“ und neues Paradigma lässt sich auch das Verhältnis von Psychoanalyse (Sigmund Freud) und Gestalttherapie (Fritz u. Laura Perls) einordnen. Das „Schließen von Gestalten“ beruht auf dem Konzept des Gewahrseins und dem daraus folgenden Prinzip des „Hier-und-Jetzt“, um alle zugänglichen Gefühle zu erkennen, die uns daran hindern, mit unserer Umwelt in einen befriedigenden Austausch zu treten. (Film-Empfehlung dazu: „Zeit des Erwachens„)

Gestalttherapie versteht sich als ganzheitliche Therapie, also als eine Therapie, die von der Einheit von Körper, Geist und Seele ausgeht.

New Age-Praktiken sind u.a. Akupunktur, Aromatherapie, Biorhythmuslehre, Heilkräuter, Homöopathie, Irisdiagnostik, Kristalle, Reiki, Schamanismus, Visualisierung, indische und tibetische Medizin, Meditation, Yoga, Gebet, Tantra, Mandalas, Astrologie, Channeling. Populär wurden die Bücher von Shirley McLane, Jane Roberts (Seth), Bewegungen wie die Sannyas-Bewegung von Osho und Kraftorte wie Findhorn.

Doch rund zehn Jahre später nach dem Erscheinen des oben erwähnten Buches von Ferguson ist ein Umkippen feststellbar, eine neue Einseitigkeit gegen jedes Ganzheits-Gerede: der ermutigende Aufruf der Aufklärung, sich des eigenen (kritischen) Verstandes zu bedienen, gerät mehr und mehr in Vergessenheit und wird von neuen Formen des patriarchalen Irrationalismus ersetzt.

Das Extrem des mechanistischen Weltbildes driftet nicht in eine Balance der Energien, sondern in eine neue Verzerrung: die Überhöhung des Geistes und der Seele.

Es ist in bestimmten Teilen der ‚Psycho-Szene‘ und mehr noch in Kreisen, die sich mit esoterischem Wissen beschäftigen, in den letzten Jahren Mode geworden, Krankheiten als etwas zu betrachten, das man ausschließlich durch die Macht des Geistes, durch ‚positives Denken‘, durch die Überwindung psychischer Störungen, durch den Glauben an irgendeine ‚Wahrheit‘ oder irgendeinen Gott, eine Göttin, beziehungsweise Gottersatz heilen könne.

„Ich halte das für eine Form des Größenwahns, dessen Mentalität mich eher an den Machbarkeitskult moderner Technokraten als an die Demut spiritueller Meister erinnert. Menschen sind ganzheitliche Wesen, das heißt sowohl die geistige als auch die psychische als auch die körperliche Ebene sind integraler Bestandteil ihres Seins. Natürlich gibt es Wechselwirkungen zwischen diesen Ebenen – deren genaue Mechanismen und Einflussgrößen noch überwiegend ein Geheimnis sind -, aber es gibt nach meiner Einsicht und Erfahrung keinen vernünftigen Grund anzunehmen, eine Ebene, zum Beispiel der Geist, habe absolute Macht über die anderen. “ schreibt Frank-M. Staemmler bereits 1993 (Quelle)

Esoterische Täuschung und verzerrte Spiritualität

Eine ganzheitliche Sichtweise des Menschen, wie sie die Psychosomatik als Psyche UND Somatik ursprünglich beabsichtigte, hat sich mehr und mehr aufgelöst und verschoben auf eine Überbetonung des Geistig-Seelischen und Herabsetzung des Körperlichen hin.

Heilung und Heilen (heil = ganz, vollständig) werden wichtiger Dimensionen beraubt: Es fehlt das vertrauensvolle Loslassen dessen, was dem Heilsein im Wege steht und ein inneres Erwachen zu dem hin, was IST.

Populäre (pseudo)psychosomatische und esoterisch-spirituelle Vorstellungen gewinnen zunehmend an Einfluss und beherrschen ebenso zunehmend den populären öffentlichen Raum und Markt.

Fast allen diesen Konzepten ist bei einer Überhöhung des Geistig-Seelischen die Degradierung des Körpers gemeinsam unter Anwendung von Beherrschungsbildern und Unterwerfungstechniken. Der Körper wird zum Objekt des Geistig-Seelischen, und es gilt, ihn neuer Kontrolle und Lenkung auszusetzen.

Diese pseudo-spirituellen Lehren und Übungen offenbaren bei genauem Hinsehen einen verschleierten Egoismus, eine andere Egozentrizität, in dem die Einzelnen, die Ausübenden, alles auf sich beziehen. Sie sehen sich selbst als ursächlich für alle Ereignisse und Entwicklungen an, und schwelgen dabei in Illusionen von Allmacht und Allmächtigkeit.

Das geht so lange, bis sie auf oft schmerzhafte und verhängnisvolle Weise an die Grenzen stoßen, um dann entweder aufzuwachen oder neue Wege der Verleugnung und Selbsttäuschung zu suchen.

Der ökonomisch-politische Druck

Aus allen Ecken schallt uns direkt oder implizit der Ruf entgegen „Du musst gesund sein!“, mit der unterschwelligen Ergänzung: „und wenn nicht, bist Du allein dafür verantwortlich“.
Fitness, Wellness, neuerdings auch Anti-Aging, werden zum Markenzeichen einer neuen Moral, die subjektive Wünsche mit gesellschaftlichen Erfordernissen verknüpft:

Das einleuchtende subjektive Verlangen, bis zu einem möglichst späten Tod ohne große Krankheiten und Beschwerden zu leben, korrespondiert nämlich typischerweise mit den Erwartungen der Außenwelt:

  • des Arbeitsmarktes, der ungeschmälertes Leistungsvermögen wünscht,
  • der Versicherungen auf einen kostenneutralen Lebensabend,
  • der Gesellschaft insgesamt auf ein allzeit fittes, freundliches, optimistisches Erscheinungsbild‘.

Alle gängigen „Ratgeber“ schüren die gleichen Hoffnungen: „du kannst dich und deinen Körper kontrollieren, manipulieren und Genuss aus ihm ziehen – in jeder Hinsicht autonom werden.“

Die Anleitungen zur körperlichen Selbstverbesserung verdeutlichen: auch für den Körper gilt nun das Fortschrittsmodell der Moderne: permanente Steigerung, unendliche Akkumulation, ewiges Wachstum.

All die Angebote suggerieren jedes für sich immer das gleiche: „Du musst gesund sein (wahlweise: jung sein, schön sein, perfekt sein etc.)“, und „es ist machbar, wenn Du nur die richtigen Produkte oder Lehren etc. kaufst.“

Sie sehen, wir sind noch ein ganzes Stück vom Verständnis und der Umsetzung von Ganzheitlichkeit entfernt. Wie es matriarchale Völker erfolgreich schaffen ihre Körper-Geist-Seele-Balance zu erhalten, erfahren Sie im nächsten Blogbeitrag. Und natürlich auch, was Tante Carmen sonst noch an Ratschlägen für Gracie auf Lager hat.

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Zur Vertiefung siehe auch: Detlev Kranz, Der Körper als Brennpunkt

4 Kommentare

  • lieblingsbank

    hallo hannelore, grüße dich.
    wenn du schreibst:

    „nach meiner Einsicht und Erfahrung keinen vernünftigen Grund anzunehmen, eine Ebene, zum Beispiel der Geist, habe absolute Macht über die anderen.“

    heisst das jetzt, mit dem bewusstsein kann ich keine körperlichen krankheiten „heilen“?

    glg die liebe bank

  • h@vonier.com

    Rainer, ich kann dir sagen, wie es bei mir läuft: Wenn ich krank bin, bzw. nur etwas Zahn- oder Kopfschmerzen habe, oder manchmal ist es mir schwindlig (jedeR hat da eigene „Schwachstellen“), dann kann ich mit Hilfe des Geistes – d.h. der Geister(welt) – erkennen, was (mir) mein Körper (sagen) will. Wenn mir das bewusst wird, dann verschwinden die Beschwerden, weil ich es ja dann WEISS und automatisch anders handle.

    „Der Geist“ beeinflusst da nicht direkt meinen Körper, sondern ich nehme durch die Erkenntnis von alleine eine andere Haltung ein.
    Alles klar?

  • lieblingsbank

    ja, danke dir.
    liebe grüße an dich.

  • Das Problem fing aber schon mit den ideologischen Begriffsverwirrungen bei Capra an. Systemtheorie gibt sich zwar gerne als ganzheitlich aus, ist dies aber zumindest innerhalb der Naturwissenschaften in keiner Weise. Die systemtheoretischen Ansätze stellen viel mehr eine Ausweitung des mathematischen Reduktionismus auf weitere Bereiche der Welt dar. Maturana bezeichnet sich z.B. selbst als Anhänger eines mechanistischen Weltbildes.
    Siehe dazu: http://www.ak-anna.org/naturwissenschaftskritik_alternativen/chaostheorie.htm