Entstehung von Hierarchie und die zweifelhafte Wortverwandtschaft mit ‚Heilung‘

Teil 9 / 12 der Serie Entstehung Patriarchat

Hierarchie

Hierarchie

Wiederholt habe ich über „Gesellschaften ohne Kopf“ geschrieben, akephale1 Sozialverbände (grch. Vorsilbe a- = „ohne“, kephalos = „Kopf, Haupt“), gemeint sind herrschaftsfreie Gemeinschaften ohne Oberhaupt. Dabei erschließt sich bei genauem Hinsehen, dass diese Menschen mehr „Köpfchen“ haben als wir, eben weil kein einzelner Kopf an der Spitze steht.

Eine Zentralinstanz gibt es nicht, niemand regiert über andere.

Entstehung von Hierarchie

Basis des Patriarchats über die Zeitepochen war und ist  das Hirtentum und dessen pastorale Lebensweise, auf die ich mich in dieser Serie immer wieder beziehe.

Vor ca. 6000 Jahren verweigerten unsere Vorfahren zum ersten Mal anderen den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen. Sie zogen nicht mehr umher, um zu jagen und zu sammeln, sondern eigneten sich Herden an, die sie einzäunten oder mit Hunden (gezähmten Wölfen, den ehemaligen Futterkonkurrenten) zusammen hielten.

Es war der kleine erste Schritt der Hirtennomaden zu Hierarchie, zu Rangordnung.

Um einen abstrakten Begriff inhaltlich zu erfassen, untersuche ich gerne die sprachliche Herkunft. Ein Wort wie „Hierachie“ ist gefüllt mit Bedeutungen und Widersprüchen. Hier das Wesentliche:

Bedeutung von arché

archein, arché heißt „erster, Ober~, Anfang, Ursprung“2

Beispiele:

  • Architekt „erster Zimmermann“, grch. tektos = „Zimmermann“;
  • Archäologie „die Kunde vom Anfang“, grch. logos = „Wort, Rede“

Bedeutung von gr. hier~

Hier~ entwickelte sich aus der indogermanischen Wurzel eis- für „heftig, ungestüm, schnell bewegen“, z.B. auch beim Schleudern von Geschossen/Pfeilen.

Später im Griechischen *oisma und vedisch ēṣati = „stürmischer Angriff, Attacke bei Raubvögeln“. Lateinisch dann īra, eira (von indg.*eisā) = „Zorn“. Germanisch *īsarnan, gotisch eisarn, althochdeutsch, altschwedisch und altnordisch īsarn = „Eisen„.

Der Beginn von stürmischen Angriffen mit Eisen(waffen)

Im Laufe der Zeit brauchten die Hirten mehr Platz durch den starken Vermehrungsdrang, der allmählich von den Herden auf die Menschen überging. Die Entdeckung des harten Eisenmetalls und seiner Verarbeitung zu Waffen, befähigte die Söhne und Töchter neues Land für sich zu erobern.

Mit dieser Wortentwicklung des ursprünglichen indogermanischen eis- ging parallel eine Bewertung einher. Worte wie „heftig, ungestüm“ sind wertneutral, besonders wenn sie sich auf das Verhalten eines Raubvogels beziehen. In Bezug auf die Eroberungstätigkeit mit Waffengewalt erfuhren sie jedoch eine Aufwertung, die bis heute Gültigkeit besitzt. Die Glorifizierung von Eroberungskriegen in unseren Geschichtsbüchern sind der Beweis.

Dichterpriester – die ersten Geschichtsschreiber

Bewerkstelligt wurde diese gezielte Glorifizierung durch die Dichterpriester, die mit Hilfe der Hieroglyphen (= heilige Schriftzeichen) diejenigen und ihre Taten rühmten, die sie dafür reich bezahlten. Das war die Aufgabe der frühen Dichter, den Vorläufern von Predigern und Medien: Wer zahlt schafft an, was publiziert wird.

Die Vorsilbe *is-(e)ro- (von indog. eis-) bekam die Bedeutung „stark, heilig“; im Griechischen hieros = „gefüllt mit überirdischer Kraft“, heilig. Germanisch (aus dem Keltischen übernommen) *isarno-, „heiliges Metall“.

Gemeinhin wird die Vorsilbe hier- in Worten wie Hieroglyphe, Hieros Gamos, Hierarchie usw. einfach mit „heilig“ übersetzt. Das Wort „heilig“ empfinden wir nicht als zerstörerisch, was Waffen aus „heiligem Eisen“ jedoch sind. Das Substantiv „Heilung“ wird gefühlsmäßig als positiv erlebt, weil es mit „Gesundheit“ verbunden ist. Eine ambivalente Wortverwandtschaft.

Dies ist beispielhaft dafür, dass wir auf die Einstellung hinter einer Handlung oder Bewertung schauen müssen, um die Absicht zu verstehen. Es kommt auf die Geisteshaltung an. Menschen, die extreme Angst spüren und Sicherheit um jeden Preis suchen, um sich wohl und gesund zu fühlen, verwenden eben „heiliges Eisen“, weil sie glauben, dass materieller Reichtum zu Wohlbefinden führt. Und sie tun alles, um den größtmöglichen Reichtum aufzuhäufen, obwohl sich die ursprüngliche, auslösende katastrophische3  Situation längst verändert hat.

Diese Geisteshaltung, verbunden mit der alten Angst zu verhungern ist bis heute weit verbreitet! Die Älteren (Eltern) traumatisieren die Kinder über Jahrtausende, so wie ihre überlebenden Vorfahren traumatisiert wurden und in diesem Prozess verändert sich der Charakter. Es war Wilhelm Reich, der diese Charakterverformung entdeckt hat.

Alle Wörter im Deutschen, die mit dem griechischen hier- beginnen, haben mit Priester-/Hirten-/Herrschertum und der offenen oder indirekten Unterdrückung anderer zu tun.

Hier die Liste der Wörter, die ins Deutsche übernommen wurden (via):

  • Hierarch: heiliger Erster (kirchlicher Oberster)
  • Hierarchie: heiliger Anfang, Oberstes (Spitze), Aufbau in verschiedenen Stufen
  • Hieroglyphen: heilige Schriftzeichen (Schrift ist Herrschaftsinstrument ebenso wie eine Geschichtsschreibung)
  • hieratisch: Schriftzeichen, ähnlich den Hieroglyphen
  • Hierodulen: Heilige Sklav/innen (grch. doulos „Sklave“), Tempel-Knechte, die auf den Ländereien arbeiteten, Tempel-Prostituierte (modern ausgedrückt „Edelnutten“), rekrutiert aus den Kindern der „großen Familen“ also den Herrscherfamilien, oder aus Kriegsgefangenen
  • Hierogramm: ein formelhaftes, grafisches Zeichen im sakralen Bereich mit festgelegter Bedeutung (z.B. Hl. Geist – Taube, Petrus – Schlüssel), um den Betrachtern „die Botschaft“ einzuschärfen
  • Hierogamie: Heilige Hochzeit (Hieros Gamos, grch. gamos = Vermählung/Vermählungsfest) – Rituelle Vereinigung zwischen Mensch und Gott/Göttin (Teil des patriarchalen Fruchtbarkeitskults zur Maximierung des lebenden Inventars)
  • Hierokratie: heilige Herrschaft (grch. kratein „herrschen“), Priesterherrschaft
  • Hieromantie/Hieroskopie: Wahrsagerei aus Tieropfern (grch. manteia „Weissagung“, skopein „schauen, betrachten“) Opfern ist etwas spezifisch Patriarchales.
  • Hieromonachos: Priestermönch
  • Hierophant: Oberpriester, „der die Mysterien/Geheimnisse auslegt“ (grch. phainein „zeigen“)
  1. *Ein Überblick über die wissenschaftliche Erforschung von Akephalien in Afrika u.a. bietet der Beitrag: Segmentäre Gesellschaft []
  2. Manche behaupten, arché bedeute „Herrschaft“. Das ist aber keine Übersetzung, sondern eine sinngemäße Bezeichnung, die nur bedingt brauchbar ist. Herrschaft heißt im Griechischen Krat(e)ía- , wie in Theokratie „Gottesherrschaft“ oder Demokratie „Herrschaft des Volkes“. Das Wort archo kommt 85 mal in der Bibel vor und wird dabei nur zweimal mit „herrschen“ übersetzt, alle anderen Male mit „beginnen, anfangen“. Luthers Übersetzung wird auf ca. 1545 datiert – er hat aus dem Griechischen übersetzt, und „archos“ hatte zu seiner Zeit also immer noch die Haupt-Bedeutung „Anfang“.

    Ein König ist ein Herrscher. Aber ein Herrscher ist nicht unbedingt ein König. Ein Patriarch ist in der Tat ein Herrscher, aber wenn der Begriff verwendet wird, liegt der Fokus woanders: Er ist der Erste seiner Linie, der Anfang/Ursprung seines Stammes. Und alle Nachgeborenen gehören ihm. Es geht hier um das Vaterrecht; der Titel Patriarch klärt die Besitzverhältnisse und bezieht sich weniger auf die Stellung in der Gemeinschaft. []

  3. Der Umbruch, der zum Patriarchat führte, wurde durch eine Dürre ausgelöst. Siehe dazu Entstehung Patriarchat – Die Dürre []

9 Kommentare

  • Alienor

    Ich wundere mich immer mehr, wie es die verbliebenen Matriarchate geschafft haben, bis heute halbwegs unbeschadet zu überleben und zu widerstehen.
    Geographische Isolation allein kann es ja nicht gewesen sein, obwohl bestimmt hilfreich.
    Gibt es Studien zu diesem Thema des „warum“?
    Und gibt es Kulturen, die eine regelrechte Rückkehr zum Matriarchat geschafft haben?
    Ich finde das Thema äußerst spannend.

  • Detlef

    Die Geisteshaltung „Sicherheit um jeden Preis“ und ihre tragischen Folgen (gerade wenn sie eine Zeit „erfolgreich“ war) zeigt für mich archetypisch Shakespeares MacBeth und die Zeile „and nothing is but what is not“. Ich glaube, MacBeth ist ein vernünftiger, moderner Mann. Die Altersversorgung ist ihm heilig.

    Detlefs letzter Blog-Beitrag…Askese macht autonom

  • @Matthias – „das Menschentum hat sich entwickelt“
    Ich denke, dass Technologien entwickelt wurden. Vom sozial-psychologischen Standpunkt aus gesehen, kann ich keine Entwicklung der Menschheit erkennen (im Gegenteil).

    Das ist ja gerade, was ich versuche ‚rüberzubringen: wir leben heute noch immer nach den gleichen Grundmustern wie vor 6000 Jahren.

  • @Alienor – es ist vor allem die geographische Isolation. ZB in den Anden gibt es noch viele Indio-Stämme in Gegenden, die nicht mit Autos erreicht werden können.
    Alles was abseits großer Städte liegt, ist einigermaßen geschützt.

    Ein weiterer Grund ist aber auch der Zusammenhalt und die enorme Widerstandsfähigkeit der indigenen Gemeinschaften gegen den Druck zur Zwangs(=Lohn)-Arbeit. Sie sterben lieber, weil sie ein fremdbestimmtes Leben nicht für lebenswert halten. In den USA ist bekannt, dass man Indianer möglichst nicht in eine Gefängniszelle steckt, das wird bei kleineren Delikten vermieden, weil der Sheriff sonst schnell einen extrem randalierenden bis toten Indianer am Hals hat.

    Ein hervorragendes Beispiel für Freiheitsliebe finden wir in Guatemala, wo seit fünf Jahrhunderten ein hartnäckiger Kampf gegen die subsistente Lebensweise der Menschen geführt wird. Gegen ein Leben in wirtschaftlicher Unabhängigkeit: Gewalt gegen die Maya in Guatemala

    Rückkehr zum Matriarchat: Nordamerikanische Indianerstämme arbeiten daran und an ihrer Unabhängigkeit. Viele haben noch die alten matriarchalen Strukturen und ihre Sprache. Manche haben sie ganz verloren. Unabhängigkeitserklärung der Lakota vom Dez. 2007

  • Patrick

    Ich würde nicht unbedingt sagen, dass wir uns nicht weiterentwickelt hätten. Allein, dass wir (zumindest hier im Westen) heute unsere Meinung sagen bzw. weitgehend so leben dürfen, wie wir uns das vorstellen, zeigt doch, dass man schon ein gutes Stück aus der Tyrannen-/Diktatorenherrschaft gelernt hat! Ok, natürlich muss man andererseits auch mit den negativen Reaktionen der anderen zurecht kommen, aber wenn man das gelernt bzw. in Ansätzen gelernt hat hat, so fühlt man sich doch schon mal ein ganzes Stück freier! Ganz einfach, weil man freier IST.

    Mich würde mal interessieren, warum du glaubst, dass wir eher Rückschritte denn Fortschritte gemacht haben.

  • @Patrick – „Rückschritte“ kommt im Text nicht vor, kann ich nichts zu sagen.

  • Sehr interessant für mich zu lesen, was sonst schwer zu finden ist!
    In unserer“zivilisierten“Gesellschaft wird vieles was völlig unzivilisiert und archaisch primitiv ist, einfach als notwendiges Übel, oder Mode hingenommen. Beispiele: Hinnahme von Verkehrtstoten (Kindern) einerseits, aber Aufregung über Abtreibung andererseits, Schönheitsoperationen bei uns, Initiationsriten bei den „primitiven“Völkern..es gibt viele solche Absurditäten welche unbemerkt existieren können, weil wir kulturblind sind.

  • Kahalla

    Faszinierend. Ich habe gerade meinen ersten Newsletter erhalten und gelesen und es gefällt mir, was gesagt wird und wie es gesagt wird.
    Dies ist noch keine übereinstimmung mit meiner meinung, aber ich freuem ich dass diese Stimme im Konzert der Meinungen existiert und freue mich auf weitere Newsletter. 
    @ Alienor: Ich glaube, dass weder Matriarchat noch Patrirachat in eine zeitliche Reihenfolge einzuordnen sind. Wenn ich annehme, dass Matriarchat die natürliche und den Menschen bekömmlichere Gesellschaftsordnung ist, dann entsteht sie überall da, wo die Zwänge des Patriarchats teilweise oder ganz wegfallen. Diese Zwänge sind ja nur deshalb vorhanden weil das patriarchale System ohne sie binnen einer oder zwei Generationen in sich zusammenfallen würde. Eine Tatsache, die  angesichts all der Repressalien und Kriege, Kämpfe und Unterdrückung in allen Ebenen der heutigen Gesellschaft kaum jemand in Zweifel ziehen wird. Ich weiss nicht wie eine Gesellschaft frei von -ismen und Dogmen aussehen würde, schließlich gibt es auch vom Matriarchat sehr viele verschiedene Vorstellungen. Ich sehe aber in den wenigen alternativen Lebensgemeinschfaften die ich bisher besuchen konnte  und die nicht dogmatisiert sind, Ansätze. Ich sehe eine Jugend die die Zwänge, gegen die ich mich mein Leben lang mit Schaden wehren musste nicht hat, die sich frei entwickeln kann und eine Hoffnung für die menschliche Zukunft ist. Und obwohl mir bei der Beobachtung dieses  Grads von Freiheit das Herz in der Brust zerreisst, weil ich weiss dass ich sie nie erreichen werde, freue ich ich für diejenigen, die diese Freiheit nutzen können eine andere menschlichere Gesellschaft aufzubauen menschlich im positiven Sinn des Wortes.

  • Frauke

    Hallo Hannelore,
    du sprichst einen sehr wichtigen Aspekt an: das Haupt, das der Kopf ist. Kopflos kann niemand hervorragend agieren. Es gab früher unter den Frauen eine Schädelanbetung wie sie es jetzt auch unter den „Skull and Bones“ Sekten gibt. Diese Frauen wussten, dass u.a. natürlich eine biologische Voraussetzung da sein muss, damit man das hohe Ziel von Visionen usw. erreichen kann. Wie du so schön erkannt hast, gibt es nichts Neues im Patriarchat. Sie haben das Wissen übernommen und leben es heimlich weiter in ihren patriarchalen Kulten. Es war nicht zum Spaß, dass Hitler in Tibet Schädel messen ließ. Interessant ist zu diesem Thema der Kristallschädel, der sehr umstritten ist und seine antike Herkunft, die verleumdet wird.
    Ich bedanke mich nochmal für deine Anregungen.