Von der verlogenen Gesellschaft angewidert – nackte Aussteiger im 19. Jh. (Video)

Monte VeritaEnde des 19. Jahrhunderts zieht es Künstler und Schriftsteller in den schweizerischen Kanton Tessin. Sie sind frühe Aussteiger. Seit der Wende zum 20. Jahrhundert ist das Tessin ein großes Ziel der Sehnsucht nach Süden. Hier trifft sich die deutsche Bohème zum kultivierten Nichtstun.

Aussteiger am Lago Maggiore

Und die Dreifaltigkeit von Botanik, Essen und Kunst verzaubert die Schweizer Provinz in ein „Bermuda-Dreieck des Geistes“, wie der Ausstellungsmacher Harald Szeemann das Paradies am Lago Maggiore nannte.

Er und andere Zeitzeugen wie der Kunsthändler Walter Feilchenfeldt, der Historiker Wolfgang Oppenheimer und Hildegarde Freifrau von Münchhausen, die am Ufer des Lago Maggiore in einer alten, hochherrschaftlichen Villa lebt und dort ihr modernes Mäzenatentum betreibt, schwärmen von den goldenen Zeiten dieses ehemals so beliebten Reiseziels.

Kunsthändler Feilchenfeldts Patenonkel war Erich Maria Remarque, den es zusammen mit anderen berühmten Schriftstellern von Max Frisch bis Hermann Hesse an den Lago Maggiore zieht.

Sie alle erzählen ein besonderes Stück Schweizer Geschichte, das in den Jahren des beginnenden Jetsets – in den 50er und 60er Jahren – aus dem verschlafenen Ort Ascona einen mondänen Treffpunkt macht.

Die illustre Geschichte der Region beginnt 1885, als Baronin Antonietta di Saint Leger zwei Inseln im Lago Maggiore kauft: die Brissago-Inseln. Auf der größeren lässt sie einen Palast errichten. Und die Baronin versteht es, bedeutende Künstler und Schriftsteller an den See zu locken.

In den 20er Jahren übernimmt der Hamburger Lebemann Max Emden die Inseln. Er lässt ein römisches Bad errichten und baut einen neuen Palast. Und er lebt ein lustbetontes Leben, mit vielen jungen Damen. Sein Garten wird zum Symbol für Luxus und Laster. Aber auch das hat Tradition am Lago Maggiore.

Monte Verità

Oberhalb von Ascona befindet sich der Höhenzug des legendären Monte Verità. Auf dem „Berg der Wahrheit“ lassen sich um 1900 naturbewegte Reformer nieder. Man trägt – wenn man nicht nackt ist – weite Gewänder und isst vegetarisch. Hier weht – wie nirgends sonst im alten Europa – der Geist der Utopie.

Monte Verità – Der Traum vom alternativen Leben

Monte Verità ist ein magischer Ort, ein Platz für Freigeister, Querdenker und Träumer und für solche mit Lust am Experiment.

»Manche Jahre hatte Doktor Knölge die Zeit des Frühlings und Frühsommers in einer der vielen freundlichen Vegetarierpensionen am Lago Maggiore hingebracht. Er hatte vielerlei Menschen an diesen Orten kennengelernt und sich an manches gewöhnt. A

n Barfussgehen und langhaarige Apostel, an Fanatiker des Fastens und an vegetarische Gourmands. Da gab es Vegetarier, Vegetarianer, Vegetabilisten, Rohkostler, Frugivoren und Gemischtkostler«
schreibt Hermann Hesse im: Weltverbesserer

Gründer dieser Kolonie waren die Brüder Karl (1875-1920) und Gustav Arthur Gräser (1879-1958) zusammen mit Henri Oedenkoven (1875-1935) und Ida Hofmann (1864-1926).

Alles begann damit, dass sich Henri Oedenkoven, der Sohn eines wohlhabenden Antwerpener Großindustriellen , und Ida Hofmann, eine Pianistin und Musiklehrerin, in einer österreichischen Naturheilanstalt kennen und lieben lernten.

Beide waren nicht nur gleichzeitig angewidert von der Verlogenheit in ihren Gesellschaftskreisen, beide verstanden sich auch sonst sehr gut. So beschlossen sie, eine Kolonie Gleichgesinnter zu gründen, in der neue Formen des Zusammenlebens, als Grundstein einer neuen Gesellschaft gelebt werden sollten. Ihre Wahl fiel auf den Monte Monescia, den sie in Monte Verita umbenannten.

Ein Leben in Wahrhaftigkeit

Der Name führt übrigens ein wenig in die Irre. Sie wollten nämlich nicht die „Wahrheit“ finden, ihr Anspruch war bescheidener, sie wollten „wahrhaftig“ leben.

„… dass wir keines wegs behaupten die ‚wahrheit‘ gefunden zu haben, monopolisiren zu wolen, sondern dass wir entgegen dem oft lügnerischen gebaren der geschäftswelt, u. dem her konvenzioneler forurteile der geselschaft, danach streben, in wort u. tat ‚war‘ zu sein, der lüge zur fernichtung, der warheit zum sige zu ferhelfen“,

so Ida Hofmann in ihrer eigenen reformierten Orthografie.

Man war von der Überzeugung beseelt, eine Veränderung der Welt durch die Änderung des eigenen Lebens bewirken zu können. Während die Brüder Gräser eine Liebeskommune anstrebten, eine Freistatt für Aussteiger, setzten Oedenkoven und Hofmann auf eine wirtschaftlich rentierende Naturheilanstalt.

Karl Gräser, ein individualanarchistischer Offizier in Kniehosen, barfüßig und mit langem Haar, der die Ablehnung jeglicher Kultur und Technik zur Erlösung der Welt und des einzelnen forderte, siedelte sich auf eigenem Grundstück ein wenig Abseits an.

1920 wurde die Naturheilanstalt wegen mangelnder Wirtschaftlichkeit aufgegeben.

Die Impulse vom Berg der Wahrheit wirken jedoch weiter in den Umwelt-, Friedens- und Frauenbewegungen der Gegenwart. Übrigens nicht zuletzt im Ausdruckstanz oder German dance, der sich vom Monte Verità aus die Welt erobert hat.

Berühmte Besucher waren u.a.: Anarchisten wie Raphael Friedeberg; Künstler, Politiker, Schriftsteller usw. wie Hermann Hesse, Carl G. Jung, Erich Maria Remarque, Hugo Ball, Else Lasker-Schüler, Stefan George, Isadora Duncan, Paul Klee, Rudolf Steiner, Henry van de Velde, Frieda und Else von Richthofen, Otto Gross, Walter Segal, Gustav Stresemann, Richard Strauss, Max Weber, Gerhard Hauptmann. Manche verbrachten Jahre auf dem Berg.


Zum Thema „anders leben“: Gemeinschaft Ökodorf Sieben Linden

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