Aufschieberitis (Prokrastination) – ein Naturgesetz physikalisch erklärt

Aufschieberitis, Prokrastination

„Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute.“

Bekannt? Natürlich.

Auf Therapeutendeutsch heißt Aufschieberitis „Prokrastination“. Es gilt im allgemeinen als unerwünscht, auch bei den Betroffenen selbst, und es mangelt nicht an kostenlosen sowie bezahlten Tipps und „Heilungsverfahren“.

Triebverzicht anstatt Aufschieberitis

Der Grund: Das Patriarchat mag keine „faulen“ Leute, die herrschende Zwangsmoral liebt Askese, Lustverzicht und Arbeitseifer. (Mehr dazu im Dossier Patriarchat.)

Worum handelt es sich bei Prokrastination/Aufschieberitis?

So wie das Gefühl der Angst, das zwar unangenehm, aber überlebensnotwendig ist, gibt es ähnliche Energiezustände, die emotional gesteuert sind und für das Erdenleben in einem Raum-Zeit-Gefüge gebraucht werden.

Was als Prokrastination („Aufschieberitis“) bezeichnet wird, kennen wir als Begriff aus der Physik: Verzögerung. Es ist ein Naturgesetz, das sich auf alle Materie bezieht und deshalb auch auf Menschen.

Stellen wir uns einen Mann im Wachzustand vor, der sich bewegt. Er geht einkaufen, arbeitet im Garten, überlebt einen Unfall, spielt Ball mit den Kindern, nimmt einen Kredit auf, macht eine Reise. Das alles findet in einer bestimmten Geschwindigkeit statt, die der Persönlichkeit dieses Menschen entspricht.

Auf seinem gesamten Lebensweg ist der Mensch mit Aufgaben konfrontiert, die hin und wieder einen Richtungswechsel nötig machen, falls er die Herausforderung annimmt.

Es kann sich dabei um etwas Erfreuliches (eine neue erwünschte Arbeit) oder etwas Unangenehmes (der damit verbundene Umzug) handeln. In jedem Fall ändert sich die Richtung des (Lebens-)Wegs. Das kann auch durch Umdenken oder ändern der inneren Haltung veranlasst werden.

Hier sind wir mitten in der Physik, genauer gesagt in der Dynamik:

  • Bei einer Richtungsänderung nimmt die Beschleunigung ab und es verringert sich die Geschwindigkeit eines Körpers. Es tritt eine (zeitliche) Verzögerung ein, ansonsten würden wir aus der Bahn geworfen.

Diese Verzögerung dient unserem eigenen Schutz, es ist ein Innehalten, das unserem relativ langsamen Denken mehr Zeit gibt.

Wir kennen dieses Naturgesetz vom Autofahren:

  • Wenn wir mit höherer Geschwindigkeit in eine Kurve einbiegen und nicht „entschleunigen“, also abbremsen, und damit die Geschwindigkeit reduzieren, dann nimmt das kein gutes Ende.

Um wieder zu unserer Aufgabe auf unserem Lebensweg zu kommen: Wir haben im Kopf alles durchdacht und geistig die Richtungsänderung bereits vollzogen. Wir müssen das Ganze jetzt nur noch in die Tat umsetzen und handeln.

Physikalisch gesprochen brauchen wir nach der Verzögerung eine Kraft, die uns beschleunigt und wieder auf Geschwindigkeit bringt.

Um einen Körper zu beschleunigen, ist immer eine Kraft notwendig.

Keine Beschleunigung führt zu geradlinig gleichförmiger Bewegung mit konstanter Geschwindigkeit, oder Verharren in Ruhelage. Manche Menschen leben so.

Der Ruck

Für alle anderen hat die Natur eine Lösung: den Ruck.

„Der Ruck ist die zeitliche Änderung einer Beschleunigung“, so die Definition der Wikipedia, und weiter „ein Ruck regt bei elastischen Systemen Schwingungen an.“

Nun, der Mensch gehört zu den elastischen Systemen. Was wir brauchen, um den Richtungswechsel durchzuführen ist also ein Ruck. Der Volkmund sagt „Gib dir einen Ruck und … geh endlich zum Zahnarzt … usw.“

Ähnlich dem Ruck ist der Stoß, ebenfalls eine physikalische Antriebskraft. Wir kennen ihn z.B. vom Schwimmen, wenn wir eine Wende machen. Durch eine Rolle vorwärts oder eine seitliche Drehung ändert eine Schwimmerin die Richtung um 180 Grad und gelangt so in die Ausgangsposition für ein optimales Abstoßen der Füße von der Wand.

„Gib deinem Herzen einen Stoß“ weiß der Volkmund, wenn eine Wende im Leben angesagt ist, und meint damit: Überwinde das Trägheitsmoment der Verzögerung.

Trägheit! Ein weiteres naturwissenschaftliches Phänomen, das uns allen vertraut ist. Auch hier kennt die Physik die Lösung für den Alltag.

Die wissenschaftliche Seite folgender Definition der Trägheit muss nicht so genau verstanden werden; die menschliche Seite wird euch sofort klar sein, wenn ihr bei ‚Körper‘ an euren Körper denkt:

  1. Aufgrund ihrer Trägheit verharren Körper in ihrem Bewegungszustand, solange keine äußere Kraft auf sie einwirkt.
  2. Die Trägheit wird durch die träge Masse quantifiziert.
  3. Je größer die träge Masse eines Körpers ist, um so weniger beeinflusst eine auf ihn einwirkende Kraft seine Bewegung.
  4. Demzufolge wird Kraft benötigt, um einen Körper zu beschleunigen, aber auch, um ihn abzubremsen.
  5. In Abwesenheit äußerer Kräfte bewegt sich ein träger Körper mit konstanter Geschwindigkeit geradlinig fort, falls er nicht in Ruhe ist (und bleibt).
  6. Den scheinbaren Widerspruch zur Alltagserfahrung, derzufolge es Kraft kostet, eine Geschwindigkeit beizubehalten, erklärt die Physik durch bremsende Reibungskräfte. (Wikipedia)

Reibungskräfte!! Das ist das Schlüsselwort. Reibungskräfte im menschlichen Leben können so verschiedenartig sein wie Schneeflocken. Reibungskräfte schaffen wir uns selbst, bzw. räumen sie nicht aus dem Weg. Es sind die tausend großen und kleinen Entschuldigungen, warum wir dies oder das nicht tun können.

Die ganzen „weils“ und „abers“.

Reibung kostet Energie und Kraft, die uns für den nötigen Ruck fehlt. Die Folge von zu viel Reibung ist Verschleiß.

Arbeit aus dem eigenen Trieb heraus braucht keine Motivation.

Woher kommt Reibung?

„Falsche Freunde“ können Reibung erzeugen. Schlechte Gesellschaft. Falsche Rücksichtnahme ebenso. Der starre Blick auf die „ungünstigen“ Umstände lähmt unsere Antriebskraft. Und wenn sonst kein „Schuldiger“ gefunden wird, warum wir uns keinen Ruck geben, dann kann immer noch das Wetter herhalten.

Reibungskräfte vermeiden heißt, sich ein unterstützendes Netzwerk schaffen.

Physikalisch ist Reibung die Gesamtheit der Kräfte am gemeinsamen Berührungspunkt zweier Körper (oder Menschen), die ihre gegenseitige Bewegung hemmen oder verhindern. Siehe dazu auch: Energiesauger erkennen – Einfach schlechte Gesellschaft loswerden.

Wir bekommen schlagartig einen positiven Impuls, wenn das Telefon klingelt und uns unerwartet Hilfe von außen angeboten wird. Oder wenn wir uns an einen Bekannten oder eine Freundin wenden, um Hilfe bitten und sie auch bekommen. Das ist der Stoß oder der Ruck, den wir benötigen. Menschen, die uns „auf Linie“ halten wollen, bringen uns nicht weiter.

Wer „auf Linie“ – auf der Geraden – bleiben will, braucht natürlich nicht die Richtung zu ändern, muss sich keinen Ruck geben und auch keinen Stoß von außen veranlassen. Denn er oder sie kommt erst gar nicht erst in diese Situation, weil sie/er fremdbestimmt ausführt, was andere von uns erwarten und keinen eigenen Weg sucht.

Davon spricht das Patriarchat im Zusammenhang mit Prokrastination/Aufschieberitis: Es hält die moralischen Bewertungen für die Ursachen! Hier ein Auszug aus der Wikipatria:

Die unangenehmen Gefühle, die den Betroffenen von einer Aufgabe abhalten, entstehen u. a. durch unklare Prioritätensetzung, schlechte Organisation, Impulsivität, mangelnde Sorgfalt, Abneigung gegen Aufgaben durch Langeweile …

Das liest sich wie eine Schildbürgergeschichte… Es sind natürlich nicht diese Ursachen, sondern daraus spricht der erhobene patriarchale Zeigefinger:

„Steh‘ früh auf, mach deine Arbeit so, wie dich deine Eltern, Lehrer, Pfarrer und sonstige Autoritäten darauf vorbereitet haben. Verzichte dabei auf Lust, Freude am Tun und unterdrücke derartige Triebe.“

Menschen, die zögern, suchen nach dem nächsten Schritt auf dem eigenen Weg.

Sie wollen eine Richtungsänderung und sind mitten im Prozess „die Kurve zu kriegen“, verlangsamen, denken nach – und schwupps greift das Patriarchat mit Gegenmaßnahmen ein. Das geschieht so geschickt, dass die Betroffenen sich Selbstvorwürfe machen und glauben sie wären schlecht organisiert usw.!

Ich halte es deshalb für förderlich und angenehm, Kontakte zu pflegen, die mir Anstöße geben, die nichts mit Zwangsmoral zu tun haben. Isaak Newton postulierte 1687 in seinem ersten Axiom zum Trägheitsgesetz:

„Ein Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen geradlinigen Bewegung, solange die Summe aller auf ihn einwirkenden Kräfte Null ist.“

Isaak Newton

Fazit: Die „Nullen“ in unserer Gesellschaft bringen uns nicht weiter…

Anmerkung:

Auf einigen englischen Websites und in Videos wird Prokrastination mit Fremdbestimmung verwechselt. Das Aufschieben, bzw. die Verzögerung tritt aber auch bei selbstbestimmten Menschen auf, weil es eben eine naturgesetzliche Schutzeinrichtung ist.

Ein gutes Buch zum Thema:

Die eigene Melodie im Rhythmus der Zeit – Das Synchronologikon von Heike Untermoser

Um das Leben besser verstehen zu können, suchen wir nach Zusammenhängen. Heike Untermoser zeigt die Synchronizität zwischen Kreisläufen der Natur und den eigenen inneren und äußeren Entwicklungsprozessen auf. Die 12 Archetypen der Astrologie sowie der 7-Jahres-Lebensrythmus des Menschen bilden hierbei ein Gerüst für zahlreiche Verbindungen und Analogien die uns helfen, uns selbst besser zu verstehen und unsere eigene Weise zu entdecken, mit den individuellen wie den globalen Herausforderungen und Aufgaben besser zurechtzukommen.

5 Kommentare

  • Zur Aufschieberitis fiel mir als erstes der im Artikel nicht erwähnte, angeblich so oft notwendige "Tritt in den Allerwertesten" ein, welcher die Überwindung einer aus Selbstschutzgründen eingenommenen langsameren Bewegungsgeschwindigkeit oder gar eines Bewegungsstillstandes erzwingen soll. Ein Spruch ("Tritt in den Hintern"), der mir sehr als explizit väterlicher in Erinnerung ist, und welchen ich als überaus patriarchal empfinde!

    Der Tritt – eingebaut in das Bild, welches der Artikel zeichnet – soll auch nicht nach einer Verzögerung vor dem Einlaufen in die Kurve und deren völliger Durchmessung, also nach dem Richtungswechsel, einen neuen Schwung verleihen, sondern der Tritt soll die Verzögerung, welche das Einlaufen in die Kurve zum angestrebten Richtungswechsel vorbereitet, von vorneherein unterbinden!

  • Günter König

    Ich versuche, über den "Tritt in den Hintern" (homöopathisch) selbst zu erntscheiden. Ich bestimme möglichst  darüber: Ich akzeptiere nur den Tritt, den ich mir selbst gebe nach gründlicher Überlegung, ob er wirklich von mir stammt und ob er wirklich gut und notwendig für mich ist!

  • Prokrastination als Zeichen für die Suche nach einem eigenen Weg, das ist ein inspirierender Gedanke.

    Zu der Prokrastination mögen sich auch ein paar negative Schwingungen von Kollegen gesellen, denen Untätigkeit gut in den Kram passt

    Vielen Dank LG Rainer

    rainers letzter Blog-Beitrag…Mißgunst

  • Finca-Christoph

    EIN HAMMER ARTIKEL!!! Es ist immer wieder ein Genuss, Dinge zulesen, die irgendwie immer auf einen Selbst weisen. Man ist zwar immer dran, alles sofort zumachen aber bei gewissen Dingen, wozu man einfach keine Lust hat, die lehnt man einfach durch verzögern ab. Hierzu fällt mir ein, dass es mehrere möglichkeiten gibt, auch mal NEIN zusagen. Viele Menschen sagen immer gleich ja zu allem und jedem. Ich zum Beispiel gebe auf eine Frage immer die Antwort: Gib mir ein paar Stunden, dann bekommst Du die Antwort. Dann weiss der Andere später, wenn ich JA zu etwas sagte, dann ist das auch so. Vielleicht ist das mal eine Anregung für Hannelore, über dieses Thema mal zuschreiben. Denn im Privaten kommt es ständig vor (zumindest bei mir)! Viele Menschen wundern sich dann, wieso ich dem jetzt nicht helfe. Aber es ist in meinen Augen so, dass man keinem anderen Menschen helfen kann, wenn es einem selber nicht gut geht. In diesem Sinne…… 🙂

    Mit besten Grüße

  • Ralf U. Hill

    Einer der besten Artikel, die ich kenne und der mir selbst sehr geholfen hat.