Über die Schwierigkeit, das Weltbild indigener Völker sprachlich rüber zu bringen
In den letzten Tagen ging eine Meldung durch die Presse über die Sprache der indigenen Pirahã, einem Völkchen vom Amazonas. Der amerikanische Linguist Daniel Everett hat die Sprache der Eingeborenen gelernt und analysiert.
Die Nachricht wurden von mehreren Zeitungen aufgegriffen u.a. titelte die taz: „Glücklich ohne Gott„, die Stuttgarter Zeitung „Keine Angst vor der Zukunft„. Der Spiegel berichtete dazu bereits 2006 unter „Leben ohne Zahl und Zeit„.
Was in allen Texten zum Ausdruck kommt, ist die Überraschung, dass a) die Sprache das Denken und damit den Lifestyle widerspiegelt und b) dass es überhaupt eine andere Lebensanschauung gibt, als die unsere.1
Denn Leben und Sprache des nur rund 400 Menschen starken Amazonasvölkchens der Pirahã (gesprochen wie „pi-da-han“) sind so außergewöhnlich, dass Forscher sich nur mühsam an sie heran tasten können. Obwohl es die Pirahã den Fremden einfach machen: Die Indianer sind freundlich und hilfsbereit. Aggressives Verhalten kommt bei ihnen so gut wie nicht vor. Sie lachen viel. Everett bezeichnet sie als das glücklichste Volk, das ihm jemals begegnet sei.2
Was ist das Außergewöhnliche an den Pirahã?
Everett nennt Merkmale der Sprache:
Es gibt keine Namen für Zahlen, Mengenangaben gehen nicht über „eins“, „zwei“ und „viele“ hinaus, zwischen Singular und Plural wird nicht unterschieden.
Die Pirahã sind Wildbeuter, d.h. die Frauen sammeln Nüsse, Früchte, Wurzeln. Die Männer fischen im Maici, einem rund 400 Kilometer langen Nebenfluss des Amazonas, oder jagen mit Pfeil und Bogen. Den gleichen Lebenstil haben auch andere Wildbeuter, etwa die Warlpiri, australische Aborigines, in deren Sprache auch nur das minimalistische Zählsystem 1-2-viele existiert.
Die Eingeborenen sind an dieses Leben angepasst. Zahlen kommen in ihrem Leben, in ihrer Kultur nicht vor. Was Everett daher zunächst als „eins – zwei – viele“ deutete, stellte sich als grobes Mengenmaß wie „ganz wenig – ein bisschen – viele“ heraus. Sätze wie „ich habe zwei kleine Fische gefangen“ und „ich habe einen großen Fisch gefangen“ sind bei den Pirahã identisch.
Ausstralische Aborigines lernen schnell auf englisch zu zählen und zu rechnen, wenn sie sich dazu gezwungen sehen. Bei den Pirahã ist das ganz anders. Vor Jahren schon hat Everett versucht, ihnen das Rechnen beizubringen. Acht Monate lang lehrte er sie das ‚um, dois, três‘ der Brasilianer – vergebens. Am Ende konnte nicht einer bis zehn zählen.3 Dass sie dumm sind, glaubt niemand.
Der Grund liegt darin, dass die ca. 700 Pirahã in einem Reservat leben und ihren Eigensinn beibehalten können. Anders als die Aborigines in Australien, denen von den weißen Europäern schlimm mitgespielt wurde und viele ihre Kultur verloren. Eine kleine Anekdote zeigt das (noch) unabhängige Denken der Pirahã:
Der ehemalige Missionar Everett hat die Pirahã seit 1977 regelmäßig besucht, mal für wenige Wochen, mal mit seiner Familie für ein knappes Jahr – insgesamt war er sieben Jahre bei ihnen. Sein ursprüngliches Ziel war die Sprachdokumentation, um das Neue Testament in Pirahã zu übersetzen. Doch wann immer er über seinen Glauben sprach, fragten die Pirahã, die selbst weder eine Religion, Götter, noch einen Schöpfungsmythos haben, ob er diesen Jesus persönlich kenne. Auf Everetts „Nein“ reagierten sie mit Desinteresse, sinngemäß mit der Frage: „wieso sollte ich mich für jemanden interessieren, den keiner kennt?“
Everett wandte sich nun ausschließlich der Forschung zu. Seine Erfahrungen mit den Pirahã beeindruckten ihn derart, dass er den christlichen Glauben ablegte.4
Die Sprache kommt in die Welt durch die Kultur
Als ein weiteres Sprach-Merkmal des Pirahã nennt Everett:
Die Sprache scheint weniger reich zu sein, sowohl was die Lautäußerungen betrifft, als auch die Komplexität der gesprochenen Information. Das Pirahã ist eine tonale Sprache wie das Chinesische – unterschiedliche Betonungen eines Lauts führen zu unterschiedlichen Bedeutungen. Doch das Pirahã besteht nur aus drei Vokalen und acht Konsonanten.
Auf die Tatsache, dass es in indigenen Sprachen aus eurozentrischer Sicht ganz „wichtige“ Wörter nicht gibt, habe ich schon oft hingewiesen. Am amüsantesten in der Glosse: Wie fehlende Worte das Weltbild spiegeln. Da fehlen Begriffe wie Mutter, Vater oder Familie. Mord, Diebstahl, Vergewaltigung, Gott, Krieg oder Konkurrenz werden von Eingeborenen nicht verstanden. Es sei denn, sie kamen mit europäischen Kolonialisten und deren Missionaren in Berührung.
Sind deshalb indigene Sprachen und die damit verwobenen Vorstellungen arm? Lässt sich Komplexes nicht ausdrücken?
Ganz im Gegenteil. Aber wir haben nicht die Wörter dafür!
Wie soll ein Forscher aus unserem Kulturkreis durch eine anderen Sprache Ideen erfahren, von denen er nicht weiß, dass er sie nicht weiß? Er kann deshalb nicht beurteilen, ob die Sprache/Kultur arm oder reich ist. Möglicherweise erkennen die Eingeborenen das Problem, aber wenn sie unsere Sprachen nicht sprechen, wie sollen sie uns dann ihr Weltbild, ihre Kultur erklären?
Seit etwa 20 Jahren gibt es solche Eingeborenen, die von ihrem Stamm in westliche Länder geschickt werden, um
- unsere Kultur und Sprache zu erlernen, damit sie in der Lage sind die weißen Eroberer zu verstehen, die ihr Land beherrschen, um handlungsfähig zu sein. Denn überall, wo es noch Stammesgemeinschaften gibt, werden sie von Regierungen bekämpft und bei Widerstand getötet, bis sie verschwunden sind. Es ist Selbsthilfe aus Verzweiflung und dient nichts Geringerem als dem Überleben.
- Gleichzeitig vermitteln die Stammes-Abgesandten interessierten Menschen im Westen ihre gewaltfreie Lebensweise.
Malidoma Somé ist einer von ihnen, der beide Welten kennt. Er erarbeitete sich verschiedene Titel: Schamane in seinem Dorf in Afrika, im Westen jeweils ein Doktorat von der Sorbonne und der Universität von Berkeley.
Hier ist ein Ausschnitt aus einem Interview, wo er genau das Problem des Verstehens verschiedener Kultur-Konzepte anspricht:
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Ausschnitt aus einem Interview mit Malidoma Somé „How to be a man“ (Ganzes Video)
Friedens- und Gewaltforscher drehen sich im Kreis, wenn sie die vorstehenden Zusammenhänge nicht kennen. Innerhalb unseres patriarchalen Paradigmas können wir die Ursachen unserer Probleme – Gewalt, Krieg, Überbevölkerung, Umweltverschmutzung – nicht finden und deshalb auch nicht deren Lösung.
- Nicht wenige Forscher/innen sind durch das Zusammenleben mit indigenen Völkern zu denselben Erkenntnissen gekommen und haben darüber publiziert: Der Linguist Carlos Lenkersdorf „Ein Leben ohne Objekte“ (Die Tojolabales kennen kein Objekt in ihrem Satzbau); Jean Liedloff berichtet über die Yequana in dem auf der ganzen Welt populären Buch „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“; die Linguistin Martha Hartman erforschte die Jaqi und publizierte in Anthologien und Fachzeitschriften. [↩]
- Sprachforschung: Pirahã – Menschen ohne Schachtelsätze [↩]
- Ein weiteres Beispiel für den besonderen Umgang mit Zahlen bei Eingeborenen sind die Jaqi. Sie sammeln nicht mehr, sondern bebauen den Boden und besitzen Tierherden. Jaqi-Frauen verwalten das Geld. Schon kleine Mädchen lernen, wie sie komplexe ökonomische Arrangements, die um Ernte, Tiere und Markt kreisen, machen können. Sie sind gut in der Arithmetik, die dazu nötig ist, und können z.B. Zinsraten auf Anleihen, Profitraten und Transportkosten berechnen und Preise für den Ein- und Verkauf von Waren festlegen. Sie können das unabhängig davon, ob sie eine Schule besuchten und ob sie schreiben und lesen können. Quelle: Wie Sprache ein partnerschaftliches Miteinander bewirkt [↩]
- Der Komplex „Religion, Gott/Göttin/Gottheiten und Mythen“ ist ein typisches Merkmal patriarchaler Systeme und verwoben in unser ganzes Dasein; indigenen Völkern, die keine Hierarchien kennen, ist er unbekannt, denn sie haben keine Verwendung dafür. [↩]
Das oben Geschriebene kann ich bestätigen Erst wenn man die Kultur, die Denk- und Lebensweise eines Volkes/einer Kultur versteht und mit den Menschen gelebt hat, kann man auch ihre Sprache ganz verstehen. Ich selber habe bei Machiguengua, Quechua und Aymará in Peru und bei Kel Tamachek und Imazighen (bei uns als Tuareg und Berber) gelebt und auch eine Weile im gälischsprachigen teil Irlands und Schottlands. Die Sprache spiegelt die Seele der Menschen wider. Die Gälen haben dafür ein Sprichwort: „Tír gan teanga, tír gan anam“ – „Ein Land ohne Sprache ist ein Land ohne Seele“….
Vielen Dank für diesen aufschlussreichen Text.
“Sind deshalb indigene Sprachen und die damit verwobenen Vorstellungen arm? Lässt sich Komplexes nicht ausdrücken?
Ganz im Gegenteil. Aber wir haben nicht die Wörter dafür!“
Das lässt sich sogar auf die Realität selbst übertragen, denn unser Unvermögen, den Kosmos als Ganzes zu verstehen, fußt auch hier im Unvermögen mit unserem heutigen Einzelbewusstsein die einstige Kohärenz des Gesamtbewusstseins erfassen zu können:
http://www.gold-dna.de/updatesept.html#up284
Liebe Grüße
Guido Vobig