Zeitkonzepte: Schaust du nach vorne oder hinten?
Wenn wir die Zukunft in Beziehung zu unserem Körper setzen, ist klar: Sie liegt vor uns. Im Gegensatz zur Vergangenheit, die wir tendenziell hinter uns lokalisieren. Für das Andenvolk der Aymara liegen die Dinge genau umgekehrt: Sie blicken buchstäblich in die Vergangenheit und kehren der Zukunft den Rücken zu.
Dieses Zeitkonzept spiegelt sich sowohl in der Sprachstruktur als auch in der Gestik dieses indigenen Volkes.
Kulturelles Paradigma
Es ist die Kultur, die bestimmt, auf welche Weise Zeitlichkeit in die konkrete Lebenswelt integriert wird. Und da gibt es einige Varianten.
Die Mexikaner, beispielsweise, kennen zweierlei Arten von Zeit. Ihre alte traditionelle und die der Eroberer. Letztere ist die hora inglesa, bei der eine Stunde genau 60 Minuten hat. Mehr individuellen Spielraum ermöglicht hingegen die hora mexicana, bei der eine Stunde schon mal 100 Minuten und länger dauern kann.
Die hora mexicana ist daher keine metrische Größe, wie ihre europäische Verwandte, sondern eine Wahrnehmung des eigenen Bereitseins. Sich in einer mexikanischen Stunde zu treffen, heißt: Man trifft sich, wenn man bereit dazu ist. Dann ist die Zeit „reif“. Auf seinem Blog über Mexico beschreibt Barry Griefer Beispiele für die hora mexicana und zieht den Schluss:
Get used to the fact that living in Mexico means viewing time as a flexible fluid thing. Don’t get upset, it all works out.
Wie ich es auch für nordamerikanischen Indianer-Stämme (First Nations) beschrieben habe, ist das Jetzt bei Ureinwohnern und ihren Nachkommen, die sich noch das Weltverständnis des „Alten Wegs“ bewahren konnten, kein äußerlich festgelegter Zeitpunkt, sondern eine soziale Übereinstimmung.
Zeit als räumliche Metapher
Wir glauben normalerweise, dass die Zukunft etwas ist, das man als „vor uns liegend“ empfindet – auch im räumlichen Sinn. Das scheint für viele der bisher untersuchten Sprach- und Kulturgemeinschaften dieser Welt zu gelten: Vom europäischen und polynesischen Raum bis zum Chinesischen, Japanischen und der Bantu-Sprache – sie charakterisieren Zeit mit räumlichen Eigenschaften.
Ich denke, dass nur Herrschaftskulturen das Denkmodell „lineare Zeitabfolge“ – Zukunft vorne, Vergangenheit hinten – zu erzwingen suchen. Das spiegelt sich in den Sprachen hierarchisch organisierter Gemeinschaften.
Bei noch ursprünglich lebenden Eingeborenen wie den Aymara ist das nicht so.
Die Aymara sind schon lange ein beliebtes Studienobjekt für Linguistinnen und Ethnologen. Der Jesuit Ludovico Bertonio hatte 1603 eine Grammatik (Arte de lengua aymara) und ein Wörterbuch (Vocabulario de la lengua aymara) veröffentlicht. Er war zu der Auffassung gelangt, dass sich die Aymara-Sprache besonders für die Bildung abstrakter Konzepte eignet und eine unerschöpfliche Quelle sprachlicher Neubildungen ermöglicht.
Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass die Sprache der Aymara nicht auf der zweiwertigen Logik (wahr/falsch) des westlich-patriarchalen Denkens beruht, sondern auf einer dreiwertigen Logik, so dass sie durch Lebensumstände bedingte Feinheiten ausdrücken kann, die unsere Sprachen nur mit Hilfe mühsamer Umschreibungen in den Griff bekommen.1
(Lebensumstände werden in unserem Logik-System niemals herangezogen. Wir entscheiden nach wahr und falsch, was gleichzeitig gut und böse bedeutet, und im bürgerlichen Gesetzbuch/in der Bibel, also einem statischen Text, verankert ist. Wahr und falsch wird unabhängig von sonstigen Kriterien „dem Buche nach“ auf das Verhalten aller Gemeinschafts-Mitglieder angewendet und notfalls durch Herrschaftsstäbe wie Polizei und Militär erzwungen. Weil deshalb kein Bedarf besteht, die Umstände mit einzubeziehen, lässt sich das auch nicht sprachlich ausdrücken.)
Gestik spiegelt Sprachstruktur
Für das Konzept der Vergangenheit verwenden die Aymara den Wortstamm „nayra„, der auch in Begriffen wie „Auge“, „vorne“ und „Anblick“ vorkommt. Vergangenes hat man mit eigenen Augen gesehen.
Zukünftiges wird mit „qhipa„, dem Grundwort für „hinten“ bzw. „zurückliegend“ ausgedrückt. Der Ausdruck „nayra mara„, der „letztes Jahr“ bedeutet, hieße demzufolge wörtlich übersetzt: „vorderes Jahr“.
Besonders die Mitglieder der älteren Generation, die kein korrektes Spanisch sprechen, begleiten Formulierungen über die Zukunft, indem sie mit dem Daumen über die Schulter zeigen. Umgekehrt zeigt eine nach vorwärts gerichtete Handbewegung Vergangenes an.
Jüngere Aymara haben sich in ihrer Zeitvorstellung bereits dem dominierenden Rest der Welt angepasst und sehen die Zukunft ebenfalls als etwas, das vor ihnen liegt. Das weist darauf hin, dass es ursprünglich ein allgemeines Zeitkonzept gab, das dem der Aymara entsprach. Das zeigt ja auch das immer noch gebräuchliche mexikanische Beispiel.
Wie es von den Jaqi2 bekannt ist (Aymara gehört zur Familie der Jaqi-Sprachen), wird auch bei den Aymara direkt erlebten Ereignissen ein viel größerer Stellenwert beimessen als Überlieferungen und Wissen aus zweiter Hand.
Wichtig ist, was beobachtbar ist.
So wie bei uns alle Sätze nach der Zeit markiert sind – sie müssen eine grammatikalische Zeit (Gegenwart, Vergangenheit, Zukunft etc.) haben -, so sind in den Jaqi-Sprachen alle Sätze nach einer Kategorie „Ursprung des Wissens“ markiert.
Diese grammatikalischen Sprach-Markierungen geben Auskunft darüber, ob die Information im Satz von der eigenen Erfahrung der Sprecherin kommt oder nicht. Sie unterscheiden sich nach drei Hauptkategorien:
- Persönliches Wissen basierend auf eigener Erfahrung.
- Wissen durch Sprache – was man von den Äußerungen anderer oder durch Lektüre lernte.
- Nicht-persönliches Wissen, z.B. Überlieferungen, für die es keine lebenden Zeitzeug/innen mehr gibt.
Ein Kind wird den ganzen Tag über daran erinnert, dass alles, was sie hört, menschlichen Ursprungs ist. Alles Wissen ist in den Menschen, verbunden mit Menschen – es gibt kein absolutes Wissen.
So ist etwa in ihrer Sprache ein Satz der Art „Im Jahr 1492 segelte Columbus auf dem blauen Ozean“ unmöglich, sofern er nicht angibt, ob der Vorgang auch beobachtet wurde. Daher ist es folgerichtig, dass die Aymara das Vergangene im Blickfeld verorten. Denn Beobachtungen beziehen sich immer auf vergangene Begebenheiten.
Das deckt sich im Übrigen auch mit historischen Schilderungen: Die europäischen Eroberer beschrieben die Aymara aus ihrer kolonialistischen Perspektive als Volk, das kaum für „Zukunft“ und „Fortschritt“ zu begeistern sei. Wie kann man etwas planen, das außerhalb meines Gesichtsfeldes liegt? Es liegt „hinter“ mir, wo ich keine Augen habe, so die Jaqi-Logik.
Über unsere Versuche von „Zeitplanung“ oder „Zeitmanagement“, die sich ja immer nur auf die (unsichtbare) Zukunft beziehen können, würden sich nicht nur die Jaqi, sondern auch die anderen Ureinwohner wundern.
Im patriarchalen Kontext wird die Zukunft als etwas beschrieben, das auf einer Zeitachse vor dem Ich liegt, während die Vergangenheit dahinter angesiedelt ist. Richtig? Die meisten würden dem zustimmen. Der Sprachgebrauch zeigt was anderes.
Der Satz: „Das Treffen wurde vorverlegt“ meint, dass das Treffen vom aktuellen Standpunkt aus weiter in die Vergangenheit geschoben wurde, zum Beispiel vom Donnerstag auf den Montag derselben Woche. Montag liegt vor dem Donnerstag, aber rückblickend und auf einer Zeitleiste gedacht, liegt dieser Montag hinter dem betreffenden Donnerstag.
Ein anderes Beispiel: Voriges Jahr. Das Jahr liegt vor mir in der Vergangenheit, ich habe es beobachten können.
Wenn du jetzt darüber verwirrt bist, was hinten oder vorne, vergangen ist oder künftig passiert, dann ist das möglicherweise ein Zeichen dafür, dass wir ein natürliches Zeitgefühl haben, das aber nichts mit dem linearen Konzept zu tun hat, in das wir mental gepresst werden und dadurch den Ausdruck „voriges Jahr“ als hinter uns erleben.
Ureinwohner erleben das Sein als zyklisch, nicht auf einer Zeitachse, sondern in Kreisen, die in der Wiederholung zur Wendel (nicht Spirale!) werden. Wo Geburt und Tod nicht die Enden einer Linie markieren, sondern zwei Durchgangspunkte auf einem Kreis darstellen, verschmilzt die Vergangenheit mit der Zukunft und bildet die Gegenwart. Der Tod ist jedoch unvermeidlich HDH Ihr Experte für Sterbegeldversicherung. Günstige Beiträge, keine Gesundheitsfragen. Sie ist exakt der Punkt, in dem wir handeln können.
- Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, S.351 [↩]
- Über die Jaqi habe ich bereits öfters geschrieben; meine bevorzugte Quelle ist Martha James Hardman. Sie ist Professorin für Anthropologie und Linguistik an der Universität von Florida in Gainesville. Hardman begründete und leitete das Aymara Language Program, betrieb mehr als 40 Jahre Feldforschung in den Anden, wo sie Grammatiken und Lehrmaterial für die drei Jaqi-Sprachen – Jaqaru, Kawaki und Aywara – verfasste. [↩]
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Liebe Hannelore,
ich wünsche Dir frohe Feiertage und vielen Dank für die engagierten Blogbeiträge, die Du in diesem Jahr gepostet hast… Du bist eine Bereicherung…
Liebe Grüße Rainer
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Danke, Hannelore, nicht nur für diesen für mich erhellenden Text auch für viele andre.
Nochmals danke. Ich verstehe bis heute nicht, wenn mir jemand die Zeit ansagt mit dem Zusatz, seine Uhr gehe vor. Dann muss ich erst umdenken: Ach so, als nach. Seine Uhr ist später. Endlich weiß ich warum.
Als Bolivianer kommen mir bei diesem Text natürlich viele Gedanken. Zwei möchte ich ausfürhen.
1. Eine Gruppe, der ich angehöre (círculo Achocalla) hat sich lange mit den Attentaten von Paris beschäftigt. Wir kamen zum Schluss, dass solche Attentate nur von jemandem gemacht werden kann, der weiss was wahr und was falsch ist. Und wenn man dem nachgeht, können es nur Gläubige der drei Schriftreligionen sein, Christen, Juden oder Muslime.
Die animistischen Religionen zu denen auch die Aymara gehören, haben keine absoluten Wahrheiten, sondern alles ist relativ, alles hängt von den Umständen ab, eben so wie es im Text beschieben wird. Die Kosequenz dieser Gedanken ist dann allerdings, das sich die Mitglieder der Schriftreligionen auch in Zukunft umbringen werden im Namen der Wahrheit.
Allerdings haben wir gesehen, dass es in allen drei Religionen auch esoterische Richtungen gibt, die nicht im Wahr-Falsch schema gefangen sind. Es sind diez die Mystiker, die Kabalisten udn die Sufis. Wenn diese Richtungen gestärkt werden, könnten die Religionen sehr gut zusammen leben.
2. Als zweites möchte ich den Satz kommentieren, dass die Aymaras nicht für Fortschritt begeistert werden können. Das ist so. Als die Entwicklungshelfer nach Bolivien kamen haben sie gefragt, was denn im Aymara das Wort für Entwicklung sei. Das gibt es nicht kam die Antwort. Aber was denn ein ähnlicher Begriff sei, was ist es denn wohin man kommen will. Die Antwort war, dass dies vielleicht ‘suma qamaña’ sei, eben das ‘gut leben’.
Allerdings ist das gut leben nicht in der Zukunft, das hat es immer schon mal gegeben und es ist vor allem kein konstanter Zustand, sondern das suma qamaña ereicht man in einer speziellen Zeit, und dann vergeht es wieder.
Oft ist es eine Zeit während eines Festes, wenn z.B. die Ernte eingebracht ist, das Vieh gut gefüttert ist, das Wetter so ist wie es sein sollte zu der Jahreszeit, es keinen Streit gibt in der Familie, ja dann ist suma qamaña.
Aber das vergeht wieder.
Wenn man das suma qamaña auf die Wirtschaft überträgt hat man die Wirtschaft der Reziprozität. Diese könnte unser kaptialistische Wirtschaftssystem ablösen, und wir kätten dann eine Wirtschaft die für den Menschen da ist. Denn die Wirtschaft der Aymara ist nicht auf ein Ziel ausgerichtet, etwa reich zu werden, sondern es geht um die Beziehung . Aber ich komme ins Schwärmen….
Saludos Pedro