Paradigmawechsel – Kultureller Wandel durch Veränderung des Charakters

Teil 2 / 4 der Serie Was ist Kultur?

Konversations-NetzeKommen wir zurück auf die Konversations-Netze, die ich vorher erwähnte: Konversationen, die als Lebensweise von der Gemeinschaft bewahrt und an die nächste Generation weiter gegeben werden. Um zu verstehen, wie es zu einem Paradigmawechsel, also zu kulturellen Veränderungen, kommen kann, müssen wir die Umstände betrachten, die eine Veränderung des Konversations-Netzes in die Wege leiten. Zu beachten ist außerdem, dass eine kulturelle Veränderung ohne eine Veränderung der emotionalen Prägung in der Kindheit nicht stattfinden kann. Lasst uns deshalb rekonstruieren, was sich in der Geschichte abgespielt hat.

Der Anfang eines neuen Paradigmas

Aus der Archäologie wissen wir, dass vor-patriarchale europäische Kulturen vor etwa 6500 Jahren von indoeuropäischen Nomaden1, die aus dem Osten kamen, erobert und brutal zerstört wurden. Ab dieser Zeit entstanden an verschiedenen Orten der ganzen Welt erstmals patriarchale Gesellschaften und die Eroberungszüge halten bis heute an.

James DeMeos beeindruckende geologische Studie sozialen Verhaltens, die Saharasia-These, gibt uns Auskunft über diese Zeit:

„Eine massive Klimaänderung erschütterte die alte Welt, als vor ungefähr 6000 Jahren beträchtliche Bereiche der damals üppigen, zum Teil bewaldeten, Graslandsavanne rasch austrockneten und sich in raues Ödland verwandelten. Die große Sahara-Wüste im arabischen Nordafrika und die riesigen Wüsten des mittleren Ostens und Zentral-Asiens gab es vor 4000 v.u.Z. noch nicht.“

Die globale Erwärmung nach den Eiszeiten beschleunigte das Austrocknen dieser enorm großen Wüstenregionen, die seit DeMeo als „Saharasia“ (=Sahara/Arabia/Asia) bekannt ist.

Dutzende archäologische und paläoklimatische Studien beweisen, dass der große Wüstengürtel der heutigen Saharasia um 4000-3000 v.u.Z. eine zum Teil bewaldete Graslandsavanne gewesen ist. Eine vielgestaltige Tierwelt – Elefanten, Giraffen, Rhinozerosse und Gazellen – lebte im grasbewachsenen Hochland, während Nilpferde, Krokodile, Fische, Schlangen und Mollusken in den Bächen, Flüssen und Seen gediehen.
Heute ist der größte Teil dieser Regionen Nordafrikas, des Mittleren Ostens und Zentralasiens sehr trocken und ohne jede Vegetation.

Die Bedingungen der Dürre erzeugten soziale und emotionale Verwüstung bei den Menschen in dieser Region. Die Charakterstruktur veränderte sich allmählich und prägte die Nachkommen. Kulturelle Veränderung geht immer einher mit einer Veränderung der emotionalen Prägung in der Kindheit.

Andere Wissenschaftler wie Wilhelm Reich oder Humberto Maturana kamen in ganz anderen Forschungsgebieten – Medizin, Psychologie, Biologie, Neurobiologie – zu gleichen Ergebnissen.

Von der Harmonie zur Traumatisierung

Ein oder zwei schlechte Erntejahre zu erleben ist eine Sache. Mit ansehen zu müssen, wie die eigene Sippe nach und nach verhungert, ganze Dörfer und Städte durch Nahrungsmangel und Seuchen verschwinden, eine andere.

„Jüngere Augenzeugenberichte über kulturelle Veränderungen bei Hungersnöten und Unterernährung weisen auf einen sich daraus ergebenden Zusammenbruch der sozialen und Familienbindungen hin. Unter sehr harten Hungerbedingungen verlassen Männer auf der Suche nach Nahrung ihre Frauen und Kinder. Manche kehren zurück, andere nicht. Hungernde Kinder und ältere Familienmitglieder sind in der Folge allein gelassen und müssen auf eigene Faust ihren Überlebenskampf führen. Solche Kinder schließen sich zu herum streichenden Banden zusammen, um Nahrung zu stehlen, während die Sozialstrukturen völlig zusammenbrechen. Die Bindung zwischen Mutter und Kind scheint am längsten zu halten, aber schließlich wird auch die kurz vorm Verhungern stehende Mutter ihre Kinder verlassen.“ (DeMeo 1997)

Dürre und Hungersnot2005 stand in „Habari“, der Zeitung der Freunde der Serengeti (Schweiz):

„Auch im Sudan herrscht eine Hungersnot. Veränderte klimatische Bedingungen, insbesondere lang anhaltende Trockenheit, haben verheerende Schäden an der Landwirtschaft verursacht. Im Niger sind es zuerst Kinder, die dem Hungertod zum Opfer fallen. Zudem sind zahlreiche Rinder durch die Hitze verendet. Spät einsetzender Regen bringt keine Erlösung, sondern neue Krankheiten wie Malaria.“

Die damaligen Menschen in Saharasia sind plötzlich mit dem fortgesetzten Austrocknen der Wiesen und Wälder konfrontiert. Zu feuchteren Plätzen weiter zu ziehen ist sinnlos, denn die Dürre holt sie immer wieder ein. Eine riesige Wüste entsteht. Die Möglichkeit in das frühere, bewährte Stadium des Jagens und Sammelns zurückzufallen ist der Gesellschaft nicht möglich, denn es gibt auf dem trockenen Boden nicht genug zu jagen oder zu sammeln.

So wurden diese Menschen zu Nomaden, die den jährlichen Wanderungen der wilden Tierherden folgten, so wie es bei den Samen in Lappland bis heute üblich ist. In Vorder- und Mittelasien und im nördlichen Afrika kam es zu großen Wanderungsbewegungen.

Natur ist noch Allgemeingut – die Phase vor dem Hirtentum

Diese nicht-patriarchalen Menschen waren keineswegs Hirten, denn sie besaßen die Herden nicht, denen sie folgten, obwohl sie von ihnen lebten. Und weil sie die Bewegungen der Herden nicht begrenzten, mussten sie mit Nahrungskonkurrenten, wie etwa Wölfen und anderen Raubtieren, teilen.

Mit anderen Worten: Unsere vor-pastoralen Vorfahren waren deshalb keine Hirten – und das ist wichtig -, weil sie anderen den Zugang zu den Herden nicht versperrten. Und das wiederum taten sie nicht, weil Besitztum nicht zu ihrer emotionalen Prägung gehörte und nicht Teil ihrer kulturellen Lebensweise war.

Wie es zu unserer Hirtenkultur kam, mitsamt dem Oberhirten in Rom, habe ich unter Entstehung Patriarchat: Hirtentum und Besitz kommen in die Welt beschrieben.

  1. Wanderungen ausgehungerter Völker: die Kurgan-Leute []

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